Stand: 21.02.2024, 22:07 Uhr

Von: Paul Mason

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Wir müssen lernen, dass man mit Putin nicht rational verhandeln kann. Dass es im Westen keine Entschlossenheit gibt, Putin die Stirn zu bieten, ist die größte Gefahr. Eine Kolumne.

Zwei Tage vor dem 24. Februar 2022 wedelte mir in Kiew ein Militärgeheimdienstoffizier mit einem Ausdruck im Gesicht herum und deutete auf die Positionen zweier russischer Hauptquartiere in Grenznähe: „Wir können nicht verstehen, warum sie angreifen sollten. Wenn sie das mit den verfügbaren Truppen tun, können sie uns zu Verhandlungen zwingen, aber sie können uns nicht besiegen.“

Zwei Jahre später nun wissen wir, dass es genau so gekommen ist. Die russische „Drei-Tage-Militärspezialoperation“ wurde vor Kiew angehalten, um Charkiw herum auseinandergenommen und im Osten durch heldenhaften Widerstand zum Stillstand niedergekämpft. Aber die ukrainische Sommeroffensive ’23 ist gescheitert. Wladimir Putin hat eine Meuterei gemeistert, hat die strategischen Reserven seiner Industrie mobilisiert und fühlt sich nun so sicher im Sattel, dass er Alexej Nawalny in einer arktischen Gefängniszelle ermorden lassen kann.

Die Ukraine hat da nur wenige Optionen. Egal zu wem ich dort spreche, alle wissen, dass sie besiegt werden können. Würde Wolodymyr Selenskyj dazu gezwungen, Territorium dem Kreml zu überschreiben, würde das die Ukraine massiv destabilisieren, sie zu einem Land voller traumatisierter Bewaffneter machen – und würde der Welt beweisen, dass die Solidarität des Westens wertlos ist.

Was haben wir in zwei Jahren Krieg über die Ukraine gelernt? Dass ihr Volk Teil Europas sein will und bereit ist, massenweise für dieses Ziel ihr Leben zu riskieren.

Das russische Regime bröckelt

Hoffnung für die Opposition?

Hintergrund des Ukraine-Kriegs

Kein Entkommen vor Putins Schergen

Skurrile Stellungnahmen des Kremls zu Nawalnys Tod

Und was haben wir über uns selbst gelernt? Offensichtlich sind die USA immer wieder anfällig für russische Sabotage. Die regelbasierte internationale Ordnung ist nicht tot, aber sie dämmert vor sich hin. Am 4. Februar 2022 verkündeten Putin und Xi Jinping das Ende universeller Prinzipien. Ein Panoptikum williger akademischer „Realisten“ behauptete, das sei die natürliche Entwicklung hin zu einer „multipolaren Welt“, in der große Mächte irgendwie zugunsten ihrer Einflussbereiche kooperieren.

Was darin nicht mehr vorkam, ist Ordnung. Vom Niger bis zum Sudan, von Jemen bis Gaza und zur Ukraine haben die Winkelzüge von Moskau und Peking nichts anderes als Chaos verbreitet. Tatsächlich sind sie im Chaos in ihrem Element.

Die bitterste Lektion aber müssen die Linken so wie ich lernen: George Orwell wusste schon, dass die britische Linke immer nur so vor Diktatur-versessenen Narren strotzte, von Sidney und Beatrice Webb einst bis zu George Galloway heute. Niemand von uns wollte erkennen, wie viele in dieser liebenswerten Community auch nicht den geringsten Scheiß darauf geben, wenn Faschisten ein europäisches Land überfallen.

Viele Menschen beweisen dagegen echte Nächstenliebe: Sie haben Flüchtlinge aufgenommen und helfen ihnen, sich zu integrieren. Sie stopfen Pickups mit Verbandszeug voll und fahren Tausende Kilometer, um sie ukrainischen Soldaten zu übergeben.

Die meisten Menschen kapieren es aber nicht: Wir stehen vor einem Gegner, mit dem man nicht rational verhandeln kann, dessen Bosheit nicht durch Güte zu bezwingen ist. Ich weigere mich zwar, russische Soldaten als „Orks“ zu diffamieren, aber Tolkien hat Recht: In einer Zeit der Ungeheuer muss man diese bekämpfen und das Böse tilgen.

Nach zwei Jahren Ukraine-Krieg ist das Land moralisch so gestärkt wie eh und je. Physisch aber ist sie vom Westen völlig abhängig. Und konzeptionell hat niemand eine Idee, wie man Putin beikommen könnte. Dass es im Westen keine Entschlossenheit gibt, Putin die Stirn zu bieten, ist die größte Gefahr.

Putin weiß, dass in einem Krieg die Seite mit der größeren Wirtschaft gewinnt. Seine Wirtschaft ist stärker als die der Ukraine. Aber die Europas ist zehnmal so stark wie Putins.

Paul Mason ist Autor.

QOSHE - Die Lektion aus dem Ukraine-Krieg - und bittere Erkenntnisse für die Linke - Paul Mason
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Die Lektion aus dem Ukraine-Krieg - und bittere Erkenntnisse für die Linke

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22.02.2024

Stand: 21.02.2024, 22:07 Uhr

Von: Paul Mason

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Wir müssen lernen, dass man mit Putin nicht rational verhandeln kann. Dass es im Westen keine Entschlossenheit gibt, Putin die Stirn zu bieten, ist die größte Gefahr. Eine Kolumne.

Zwei Tage vor dem 24. Februar 2022 wedelte mir in Kiew ein Militärgeheimdienstoffizier mit einem Ausdruck im Gesicht herum und deutete auf die Positionen zweier russischer Hauptquartiere in Grenznähe: „Wir können nicht verstehen, warum sie angreifen sollten. Wenn sie das mit den verfügbaren Truppen tun, können sie uns zu Verhandlungen zwingen, aber sie können uns nicht besiegen.“

Zwei Jahre später nun wissen wir, dass es genau so gekommen ist. Die russische „Drei-Tage-Militärspezialoperation“ wurde vor Kiew angehalten, um Charkiw herum auseinandergenommen und im Osten durch heldenhaften Widerstand zum Stillstand niedergekämpft. Aber die ukrainische Sommeroffensive ’23 ist gescheitert. Wladimir Putin hat eine Meuterei gemeistert, hat die strategischen........

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