Stand: 25.02.2024, 10:50 Uhr

Von: Karin Dalka

Kommentare Drucken Teilen

Wir dürfen uns an das Leid und die Zerstörung in der Ukraine nicht gewöhnen. Gleichzeitig wäre es zynisch, die Ukraine durch die Verweigerung von Waffen zur Kapitulation zu zwingen. Der Leitartikel.

Kiew – Jeder Tag Krieg ist einer zu viel. Nun leiden die Menschen schon seit 730 Tagen. Zwei lange Jahre voller Tod und Zerstörung. In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 kündigte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Video-Ansprache eine „Spezialoperation“ an. Russische Militärkolonnen rollten über die Grenze zum Nachbarland. Eine enthemmte Gewalt brach in das Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer ein.

Heute steht die Ukraine vor einem dritten unheilvollen Jahr. Ein Ende des Terrors ist nicht in Sicht. Es kann sogar noch schlimmer werden. Zehntausende Menschen mussten bereits ihr Leben lassen, Millionen sind geflohen, weite Landstriche verwüstet. Aber die Ukraine wird noch mehr leiden müssen. Diese Gewissheit ist bitter. Deprimierend.

Schon der Blick auf die vergangenen Monate war ernüchternd. Zu Jahresbeginn 2023 hatte die militärische Lage für die Ukraine noch besser ausgesehen: Da rüstete sich ihre Armee mit westlicher Unterstützung für eine große Gegenoffensive, die im Juni begann – und scheiterte. Die Hoffnung, weitere Gebiete von den Besatzern zu befreien und den Aggressor zum Rückzug zu zwingen, erfüllte sich nicht. Militärfachleute sprechen von einem Patt.

Noch düsterer sind die Zukunftsaussichten, wenn die USA die Ukraine im Stich lassen sollten. Ist dann das Schicksal des Landes besiegelt? Oder können die europäischen Staaten die Lücke füllen? Die ukrainische Armee ist erschöpft, ihr geht nicht nur die Munition aus. Nur mit sehr viel mehr Soldaten wird sie den russischen Angreifern weiter standhalten. Der Kreml verheizt, so muss man es leider nennen, Zehntausende Männer auf den Schlachtfeldern, um selbst wieder in die Offensive zu kommen und das Kriegsgeschehen zu dominieren. Menschen als Kanonenfutter, wie in den schrecklichen Kriegen des 20. Jahrhunderts.

Es ist verständlich, wenn jetzt der Ruf nach Verhandlungen und einem Stopp von Waffenlieferungen noch lauter wird. Damit das Gemetzel endet. Denn mit jedem Menschen, der in diesem Krieg Leben, Heimat und Zukunft verliert, stirbt auch die Menschlichkeit. Stirbt die Hoffnung auf eine zivilisierte Welt, die das Archaische, die entgrenzte Gewalt und Zerstörung überwindet.

Zugleich wäre es zynisch, täte es Europa jetzt den USA gleich. Wer sind wir, die Ukraine durch die Verweigerung von Waffen zur Kapitulation zu zwingen? Das hieße, ihr Recht auf Souveränität, Freiheit und Demokratie mit Füßen zu treten. Und die eigenen sicherheitspolitischen Interessen zu ignorieren. Man muss die Augen schon fest verschließen, um nicht zu erkennen: Der Kriegsherr im Kreml verhandelt nicht.

Andererseits: Nichts spricht dafür, ausschließlich auf die militärische Karte zu setzen und nur in den Kategorien von Sieg und Niederlage zu denken. Die Konfliktforschung lehrt: Die allermeisten Kriege enden nicht so, dass eine Seite verliert und ihre Niederlage akzeptiert. In der Ukraine droht ein langer Abnutzungskrieg. Was, wenn wir am Jahrestag 2025 und an weiteren Jahrestagen erkennen müssen, dass sich die Fronten kaum verändert haben – mit dem entscheidenden Unterschied, dass noch viel mehr Menschen sterben mussten?

Der Historiker Jörn Leonhard hat festgestellt: Je länger ein Krieg dauerte und je mehr Opfer er kostete, desto komplizierter und widersprüchlicher war der Weg zum Frieden. Nicht zu vergessen: Der schmerzliche Prozess einer Aussöhnung braucht unerträglich viel Zeit. Einen wahrhaften und gerechten Frieden, der von Dauer ist, werden auch in diesem Konflikt erst kommende Generationen über den Gräbern ihrer Vorfahren schließen können.

Wer sich fragt, wie man den Ukraine-Krieg beenden kann, muss also in langen Linien denken. Und zugleich bereit sein, veränderte Situationen schnell neu zu bewerten, damit sich verschlossene Fenster der Diplomatie öffnen können. Muss auch sensibel sein für die Ambivalenzen und Schwächen der eigenen Position, um jenseits vertrauter Argumentationsmuster das noch Ungedachte denken zu können.

Der Diskurs über den Krieg wird dagegen immer noch allzu oft schwarz-weiß geführt, verkürzt auf ein Ja oder Nein zu Waffenlieferungen. Beide Seiten wollen sich die politischen und moralischen Dilemmata nicht eingestehen, verschanzen sich lieber in den Festungen ihrer Überzeugungen und arbeiten sich, teils aggressiv, aneinander ab.

Humanität bedeutet, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir dürfen uns an diesen Krieg nicht gewöhnen. Nicht gleichgültig werden gegenüber dem Leid der Menschen. Empathie wird diesen Krieg nicht beenden. Aber ohne sie verlieren wir unseren moralischen Kompass. Der zeigt uns untrüglich an, wo und wie wir auch hierzulande konkret handeln können. Etwa indem wir laut widersprechen, wenn Unionspolitiker den Ukrainer:innen, die nach Deutschland geflohen sind, das Bürgergeld kürzen oder gar streichen und die Männer zum Kriegsdienst aus dem Land drängen wollen.

Kriege sind kein Schicksal. Sie sind menschengemacht und per se ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch Frieden wird von Menschen gemacht. Er braucht Köpfe und Herzen, die das Unerträgliche aushalten und zugleich darauf beharren: Jeder Kriegstag ist einer zu viel. (Karin Dalka)

QOSHE - Zwei Jahre in der Ukraine: Jeder Tag Krieg ist einer zu viel - Karin Dalka
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Zwei Jahre in der Ukraine: Jeder Tag Krieg ist einer zu viel

7 0
25.02.2024

Stand: 25.02.2024, 10:50 Uhr

Von: Karin Dalka

Kommentare Drucken Teilen

Wir dürfen uns an das Leid und die Zerstörung in der Ukraine nicht gewöhnen. Gleichzeitig wäre es zynisch, die Ukraine durch die Verweigerung von Waffen zur Kapitulation zu zwingen. Der Leitartikel.

Kiew – Jeder Tag Krieg ist einer zu viel. Nun leiden die Menschen schon seit 730 Tagen. Zwei lange Jahre voller Tod und Zerstörung. In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 kündigte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Video-Ansprache eine „Spezialoperation“ an. Russische Militärkolonnen rollten über die Grenze zum Nachbarland. Eine enthemmte Gewalt brach in das Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer ein.

Heute steht die Ukraine vor einem dritten unheilvollen Jahr. Ein Ende des Terrors ist nicht in Sicht. Es kann sogar noch schlimmer werden. Zehntausende Menschen mussten bereits ihr Leben lassen, Millionen sind geflohen, weite Landstriche verwüstet. Aber die Ukraine wird noch mehr leiden müssen. Diese Gewissheit ist bitter. Deprimierend.

Schon der Blick auf die vergangenen Monate war ernüchternd. Zu Jahresbeginn 2023 hatte die militärische Lage für die Ukraine noch besser ausgesehen: Da rüstete sich ihre Armee mit westlicher Unterstützung für eine große Gegenoffensive, die im Juni begann –........

© Frankfurter Rundschau


Get it on Google Play