Stand: 01.04.2024, 15:35 Uhr

Von: Karin Dalka

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Afghanistan darf nicht aus unserem Blickfeld geraten. Dafür gibt es gewichtige Gründe. Der Kommentar

Viele aktuelle Hiobsbotschaften aus Afghanistan erinnern an die erste Schreckensherrschaft der Taliban von 1996 bis 2001. Damals lösten die Zerstörung von Kulturschätzen wie der Buddhastatuen von Bamiyan und vor allem die brutale Unterdrückung der Frauen weltweit Entsetzen aus.

Leider wiederholt sich Geschichte: Seit ihrer Machtübernahme 2021 drängt das radikalislamische Regime Mädchen und Frauen mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben: Sie werden systematisch entrechtet. Nun schreckt die Nachricht auf: Die Taliban wollen wieder Frauen wegen Ehebruchs steinigen. Der zivilisatorische Rückschritt führt der Öffentlichkeit erneut das klägliche Scheitern des internationalen Afghanistaneinsatzes vor Augen. Ein Versagen, das die politisch Verantwortlichen in Deutschland lange Zeit nicht wahrhaben wollten.

„Strategisch gescheitert“ lautet das Fazit der vom Bundestag eingesetzten Enquetekommission, die kürzlich ihren Zwischenbericht vorgelegt hat. Das mehr als 300 Seiten starke Papier fand eher wenig Beachtung in den Medien und im politischen Berlin. Ein Grund dafür dürfte sein: Die bittere Erkenntnis, dass der Afghanistaneinsatz ein Misserfolg war, ist keine Überraschung, sondern Common Sense – spätestens seit dem schmachvollen Truppenabzug vor drei Jahren. Noch ist aber nicht erkennbar, ob die Politik daraus gelernt hat. Die Kommission aus Abgeordneten und Sachverständigen wird bis Ende 2024 Empfehlungen abgeben.

Ist die politische Elite willens, aus der Aufarbeitung Konsequenzen zu ziehen? Skepsis ist angebracht. Schon der skandalöse Umgang mit den ehemaligen Ortskräften und den vielen gefährdeten Afghaninnen und Afghanen, die sich zu Recht von Deutschland im Stich gelassen fühlen, legt nahe: Die Neigung in Politik und Gesellschaft ist groß, endlich mit dem Verlierer-Thema Afghanistan abzuschließen. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Das jedoch können sich Deutschland und die Welt nicht leisten. Allein schon weil von Afghanistan wieder Terrorgefahr ausgeht. Es gibt dort einen Nährboden für einen globalen, gewalttätigen Dschihadismus, wie der Anschlag des afghanischen Ablegers der Terrormiliz „Islamischer Staat“ im russischen Krasnogorsk vom 22. März zeigt. Diesen Nährboden hat der „Krieg gegen den Terror“ nicht ausgetrocknet, sondern gedüngt. Die Taliban bekämpfen die IS-Splittergruppe zwar. Man solle aber nicht darauf vertrauen, dass sie die Lage in den Griff bekämen, sagen Sicherheitsexpert:innen. Wer Afghanistan ignoriert, ignoriert seine eigenen Sicherheitsinteressen.

Ein zweiter Grund, nicht wegzuschauen, ist moralischer Natur. Deutschland und das US-geführte internationale Bündnis können ihre Verantwortung für Afghanistan, die sie mit der Intervention übernommen haben, nicht einfach abschütteln. Denn die Fehler, die sie gemacht haben, das strategische Versagen, die Ignoranz gegenüber der Kultur und den Traditionen des Landes, haben den Wiederaufstieg der Taliban mit ermöglicht, ja sogar befördert. Nicht zuletzt wurden diese gestärkt durch die wuchernde Korruption dank gigantischer westlicher Geldströme in einer Fassadendemokratie, die weite Teile der Bevölkerung ausgrenzte.

Dabei hätte man es besser wissen können. Deutschland hätte es besser machen können. Die Lektüre des Enqueteberichts lehrt: Es hätte vor allem ein eigenständiges Konzept gebraucht, um sich zusammen mit anderen Partnern stärker von den USA zu emanzipieren. Dazu eine Strategie mit Zwischenzielen und Parametern, um Fortschritte messen und Rückschläge identifizieren zu können. Wirkungsanalysen. Seriöse, ehrliche Berichte der Gesamtlage. Monitoring und eine regelmäßige unabhängige Evaluation. Das haben Wissenschaftler:innen regelmäßig angemahnt, sie fanden kein Gehör.

Aus der deprimierend langen Liste von Fehlern, die sich im Kommissionsbericht summieren, ergeben sich quasi logisch viele Ansatzpunkte, wie sich die Arbeit von Regierung und Parlament bei Auslandseinsätzen verbessern ließe – wobei sich ein Einsatz wie in Afghanistan absehbar sicher nicht wiederholen wird. Was sich in keinem Fall wiederholen darf, sind die Täuschungen und Selbsttäuschungen, die es verhindert haben, dass die Abgeordneten das Regierungshandeln besser kontrollieren. Ihnen wurden „Fortschrittsberichte“ präsentiert, auch wenn es keine Fortschritte gab. Sie wurden abgespeist mit Antworten, die keine waren, und schönfärberischen Inszenierungen bei Besuchen vor Ort.

Mehr Wissen und Weitsicht, eine Strategie und gute Kommunikation – davon braucht es mehr in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Das zeigt sich auch im Ukrainekrieg: Was wollen wir mit welchen Mitteln erreichen? Für Europa ist diese Frage existenziell. Zugleich gilt es, Afghanistan nicht zu vergessen. Intelligente Wege zu finden, um die Not und den Hunger von Millionen Menschen zu lindern, ohne die Taliban diplomatisch anzuerkennen. Kontakte zu knüpfen und Gesprächsangebote zu machen, damit wieder Inseln der Hoffnung entstehen. Ein Balanceakt – so schwierig wie notwendig. Wegschauen ist keine Option.

QOSHE - Wir dürfen Afghanistan nicht vergessen - Karin Dalka
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Wir dürfen Afghanistan nicht vergessen

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01.04.2024

Stand: 01.04.2024, 15:35 Uhr

Von: Karin Dalka

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Afghanistan darf nicht aus unserem Blickfeld geraten. Dafür gibt es gewichtige Gründe. Der Kommentar

Viele aktuelle Hiobsbotschaften aus Afghanistan erinnern an die erste Schreckensherrschaft der Taliban von 1996 bis 2001. Damals lösten die Zerstörung von Kulturschätzen wie der Buddhastatuen von Bamiyan und vor allem die brutale Unterdrückung der Frauen weltweit Entsetzen aus.

Leider wiederholt sich Geschichte: Seit ihrer Machtübernahme 2021 drängt das radikalislamische Regime Mädchen und Frauen mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben: Sie werden systematisch entrechtet. Nun schreckt die Nachricht auf: Die Taliban wollen wieder Frauen wegen Ehebruchs steinigen. Der zivilisatorische Rückschritt führt der Öffentlichkeit erneut das klägliche Scheitern des internationalen Afghanistaneinsatzes vor Augen. Ein Versagen, das die politisch Verantwortlichen in Deutschland lange Zeit nicht wahrhaben wollten.

„Strategisch gescheitert“ lautet das Fazit der vom Bundestag eingesetzten Enquetekommission, die kürzlich ihren Zwischenbericht vorgelegt hat. Das mehr als 300 Seiten starke Papier fand eher wenig Beachtung in den Medien und im politischen Berlin. Ein Grund dafür........

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