Stand: 29.12.2023, 17:40 Uhr

Von: Karin Dalka

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Die verbreitete Untergangsstimmung verleitet zu kollektiver Trübsal. Dagegen hilft Trotz.

Vielen Menschen dürfte es schwerfallen, einander um Mitternacht unbelastet ein gutes neues Jahr zu wünschen. Zumal in der Rückschau auf das Jahr 2023, das gefühlt eine einzige Katastrophe war. Psychologische Beratungsstellen berichten über zunehmende Depressionen und Zwangsstörungen. Sozialwissenschaftler:innen sprechen von einer gestressten Gesellschaft, veränderungsmüde und erschöpft. Die Medienforschung stellt einen Überdruss an schlechten Nachrichten fest. Bis in die Mitte der Wohlstandsgesellschaft hinein haben Energiekrise, Inflation und Rezession Spuren hinterlassen. Besonders tief bei denjenigen, die an diesem Wohlstand noch nie partizipieren konnten.

Diese Stimmung spielt Rechtspopulist:innen und Extremist:innen in die Hände und ist geeignet, jede Hoffnung auf ein besseres Morgen zu ersticken. Fatalismus statt Idealismus? Bloß nicht. Das wäre die denkbar schlechteste Zeitenwende.

Ja, der Glaube an einen Fortschrittsautomatismus, der über viele Jahrzehnte für die westlich-liberalen Wachstumsgesellschaften prägend war, hat sich schon lange verflüchtigt. Kriege und Krisen, vor allem die Klimakrise, haben ihm den Rest gegeben.

Andererseits: Wer jede Hoffnung fahren lässt, verliert die Kraft zu handeln. Hat also schon verloren. Als Individuum und als Kollektiv. Natürlich: Dieses Wissen allein ist noch kein Ausweg. Aber es kann ein Anfang sein. Vor allem wenn eine gehörige Portion Trotz dazukommt. Ja, Sie haben richtig gelesen. Üblicherweise stellen wir uns unter Trotz die Wutanfälle von verzweifelten Kleinkindern vor, die mit dem Kopf durch die Wand wollen. Aber Trotz kann eine Tugend sein. Zumal wenn es gelingt, sich mit emotionaler Wucht aus der Umklammerung durch Ohnmachtsgefühle zu lösen.

Jetzt erst recht: Diese Haltung macht die Welt nicht automatisch besser. Aber sie kann den Fokusregler verschieben, der unsere Aufmerksamkeit steuert. Weg von der Fixierung auf negative Schlagzeilen. Hin zu den Fortschritten, die oft zunächst nur wie Trippelschritte aussehen: Initiativen, Experimente und Leuchtturmprojekte, die das Zeug zu einem großen Fortschritt haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im nächsten Jahr werden in einem großen Pilotprojekt in Deutschland mehr als 40 Unternehmen und Organisationen eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich ausprobieren.

Mag sein, dass die deutsche „Wellnessgesellschaft“ von Menschen bevölkert wird, die von ihren bequemen Sesseln aus das Elend der Welt nicht sehen wollen, nicht einmal das eigene, wie der Publizist und Philosoph Michel Friedman in „Schlaraffenland abgebrannt“ schreibt. Aber richtig ist auch: Die Zivilgesellschaft ist stark. Millionen Menschen engagieren sich ehrenamtlich etwa in Vereinen und sozialen Bewegungen. Menschen, denen die Zuversicht nicht abhandengekommen ist, dass sie ihr Leben, die Verhältnisse, die Welt verändern können.

Die Psychologie nennt es Selbstwirksamkeit, wenn aus dieser Haltung eine Erfahrung wird: gelebtes Wissen durch wiederholtes Tun. Eine Schlüsselkompetenz für die seelische Gesundheit des Einzelnen und für die Widerstandskraft einer Gesellschaft, die nicht kollektiv in Trübsinn verfallen will. „Seien Sie ein Wirk“, rät die Transformationsforscherin Maja Göpel. Ein Aufruf zum Zusammenwirken von vielen in einem Prozess, in dem manchmal nur wenige Menschen vorangehen, die dann andere inspirieren und motivieren.

Davon lebt die Demokratie. Aber die ist geschwächt, auch hierzulande. In diesem Krisenjahr durch das verloren gegangene Vertrauen in die selbsternannte Fortschrittskoalition der drei Ampelparteien, die ihrem Anspruch nicht gerecht wird. Erschüttert ist aber auch das Grundvertrauen in das repräsentative System selbst, in dem sich viele nicht mehr vertreten fühlen. Das muss nicht so bleiben. Doch es bräuchte einen Politikwechsel, der den Raum öffnet für mehr direktdemokratische Entscheidungen, an denen viele „Wirks“ von Anfang an beteiligt werden.

Eines der klügsten Bücher in diesem Jahr hat dazu die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff geschrieben: „Demophobie“. Gemeint ist damit die Angst vor dem Volk, das zwar klug genug sein soll, alle vier Jahre seine Repräsentant:innen zu wählen und deren Politik vorherzusehen, aber angeblich zu dumm ist für Sachentscheidungen. Mit diesem Widerspruch müssen sich die demokratischen Parteien endlich ernsthaft auseinandersetzen.

Volksabstimmungen „von oben“ sind ein beliebtes pseudodemokratisches Instrument von Demagogen wie Erdogan, um ihre Macht zu sichern. Dagegen können partizipative Verfahren „von unten“ ein guter Weg sein, die Demokratie zu stärken und den Einfluss finanzstarker Lobbygruppen auf Parteien und Parlament zu begrenzen.

Wunschdenken? „Hoffnung ist enttäuschbar“, schrieb der Philosoph Ernst Bloch. „Hoffnung aber nagelt doch immerhin eine Flagge an den Mast.“

QOSHE - Jetzt erst recht - Karin Dalka
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Jetzt erst recht

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29.12.2023

Stand: 29.12.2023, 17:40 Uhr

Von: Karin Dalka

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Die verbreitete Untergangsstimmung verleitet zu kollektiver Trübsal. Dagegen hilft Trotz.

Vielen Menschen dürfte es schwerfallen, einander um Mitternacht unbelastet ein gutes neues Jahr zu wünschen. Zumal in der Rückschau auf das Jahr 2023, das gefühlt eine einzige Katastrophe war. Psychologische Beratungsstellen berichten über zunehmende Depressionen und Zwangsstörungen. Sozialwissenschaftler:innen sprechen von einer gestressten Gesellschaft, veränderungsmüde und erschöpft. Die Medienforschung stellt einen Überdruss an schlechten Nachrichten fest. Bis in die Mitte der Wohlstandsgesellschaft hinein haben Energiekrise, Inflation und Rezession Spuren hinterlassen. Besonders tief bei denjenigen, die an diesem Wohlstand noch nie partizipieren konnten.

Diese Stimmung spielt Rechtspopulist:innen und Extremist:innen in die Hände und ist geeignet, jede Hoffnung auf ein besseres Morgen zu ersticken. Fatalismus statt Idealismus? Bloß nicht. Das wäre die denkbar schlechteste Zeitenwende.

Ja, der Glaube an einen Fortschrittsautomatismus, der über viele Jahrzehnte für die westlich-liberalen Wachstumsgesellschaften prägend war, hat........

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