Die Spitze der deutschen Netflix-Seriencharts führte über die Feiertage „Kaminfeuer 4K: Knisterndes Birkenholz-Feuer“ an. Die Show unter der Regie von George Ford zeigt ein knisterndes Birkenholz-Feuer in 4-K-Ultra-HD, fünfzig Minuten lang. Es knistert und es knackt also fünfzig Minuten lang in einer einzigen Ein­stellung der Kamera. Dann sind nicht etwa die Flammen heruntergebrannt, die Kamera blendet aus.

Nach den Festtagen ist Fords Film jetzt erst mal auf Platz 3 der Seriencharts abgefallen. Vielleicht ist der Anblick brennbaren Materials nicht mehr ganz so verführerisch, je näher es an Silvester geht. Vielleicht aber steigt der Bedarf bald schon wieder, wenn es weiter so regnet, wer will schon draußen im Monsun irgendwas abfackeln?

George Ford hat nicht nur diesen einen Hit gedreht: Netflix hat auch seine einstündige Show „Knisterndes klassisches Kaminfeuer“ im Angebot (aktuell Platz 7 der Seriencharts). Und genauso Fords drei­teilige Serie „Kaminfeuer für Zuhause“, drei Folgen mit knisterndem Knacken zu wechselnder Musik, schön zum Wegsuchten. Der Kamin ist immer derselbe, nur das Holz wechselt, scheinbar jedenfalls. Wem das zu viel Action ist oder die Action nicht wohlig genug, schaltet um in die große Halle von Kaer Morhen und starrt in die Feuerschale, die dort sonst den „Witcher“ warm hält: Netflix hat aus einer kurzen Einstellung dieser Videospiel-Adaption einen sechzigminütigen Loop gemacht.

Vermutlich würde ich mir auch den Livestream einer Feuerschale aus dem Garten des NDR-Landesstudios in Kiel anschauen. Aber leider hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen vergleichbare Shows zum Chillen („Die schönsten nichtelektrifizierten Bahnstrecken der Pfalz“ im SWR, „Franz Müntefering liest westfälische Nachnamen aus dem Telefonbuch von Ottmars-Bocholt“ im WDR) tief ins Nachtprogramm verlegt. Und noch entspannter wäre ich nur, wenn sich herausstellte, dass bei George Ford gar kein Kaminholz brennt, sondern ein gasbetriebenes Feuermöbel.

Mehr zum Thema

1/

Engelke und Brandt : Keine Ahnung, wie lustig die ARD ist

„Altes“ Programm : 9 Ideen zur Rettung des deutschen Fernsehens

Das Jahr in Reizworten : Begriffe, die uns 2023 erzählen

Dieses Lagerfeuerfernsehen und ihr Erfolg beweist jedenfalls, dass man nirgendwo live dabei sein muss, um es besser zu begreifen – solange es im Fernsehen gezeigt wird. Und dass es nicht mal live sein muss. Das ist die nichtauthentische, hochwirksame Aura des Fernsehens. Kulturpessimistische Anfälle über Kaminfeuer-Shows sind also total unangebracht. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk überträgt auch Gottesdienste und Weihnachtsansprachen von Bundespräsidenten. Man muss nur dran glauben. Oder wissen, dass man nur dran glaubt.

QOSHE - Warum die Leute bei Netflix ins Feuer schauen - Tobias Rüther
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Warum die Leute bei Netflix ins Feuer schauen

14 0
31.12.2023

Die Spitze der deutschen Netflix-Seriencharts führte über die Feiertage „Kaminfeuer 4K: Knisterndes Birkenholz-Feuer“ an. Die Show unter der Regie von George Ford zeigt ein knisterndes Birkenholz-Feuer in 4-K-Ultra-HD, fünfzig Minuten lang. Es knistert und es knackt also fünfzig Minuten lang in einer einzigen Ein­stellung der Kamera. Dann sind nicht etwa die Flammen heruntergebrannt, die Kamera blendet aus.

Nach den Festtagen ist Fords Film jetzt erst mal auf Platz 3 der Seriencharts abgefallen. Vielleicht ist der Anblick brennbaren Materials nicht mehr ganz so verführerisch, je näher es an Silvester geht. Vielleicht aber steigt der Bedarf bald schon wieder, wenn es weiter so........

© Frankfurter Allgemeine


Get it on Google Play