Das war mein schönstes Ferienerlebnis 2023: Es war Donnerstagabend, und es war 18 Uhr, und der Berliner Hauptbahnhof war leer. Leer! Vier Stunden später erst sollte der GDL-Streik beginnen, aber die Gleise wirkten, als sei schon Weihnachten: Ein paar verstreute Menschen wie ich, ein Reporterteam von der ARD, das ein paar dieser Leute vor der Kamera interviewte, die kühle, weite Stille der Architektur – es war herrlich. Es war leer! Aber fast hätte mich die Bahn dann doch wieder um dieses Erlebnis gebracht.

„Bitte buchen Sie um, wir werden bestreikt“, hatte sie mich nämlich noch am Nachmittag per Push-Mitteilung angefleht. Dabei wäre ich da gar nicht hineingeraten, weil ich früh genug abfahren sollte. Vielleicht wollte die Bahn mit dieser Warnung aber gar nicht mich, sondern sich selbst schützen – damit ich mich nicht an diesen Anblick eines komfortablen, ruhigen Bahnhofs gewöhne und am Ende noch auf die Idee komme, Bahnfahren könnte immer so sein. Wäre also etwas, das auch ohne ausgefallene Rolltreppen und zweihundert Leute mit Übergepäck auf der Suche nach ihrem Sitzplatz in einem ausgebuchten Zug möglich ist, und dann fallen auch noch die Toiletten aus.

Ich kann nichts dafür! So wird man einfach, wenn man jahrelang Bahn fährt und ständig Zügen hinterherrennen muss, deren Wagen in umgekehrter Reihenfolge einfahren. Man wird also ungnädig. Und denkt: Kann ja sein, dass die jetzt keine Wagenstandanzeiger mehr an die Gleise stellen, weil sie alles in ihre App verlegen wollen und man seinen Platz im Zug und den Gleisabschnitt vor der Einfahrt bequem digital sucht – ich bin mir aber sicher, sie tun das nur, weil sie selbst keine Lust mehr haben, ständig zugeben zu müssen, dass ihre Züge verkehrt herum am Bahnhof ankommen!

Ich bin mir nicht sicher, ob ich das technisch korrekt ausgedrückt habe, jedenfalls konditioniert die Bahn einen darin, damit zu rechnen, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Und wenn es dann aber gar nicht so kommt, sondern sogar viel schöner als sonst, wird man ganz verwirrt und versöhnlich. Da stand ich also und wartete auf meinen ICE und schielte immer so mit einem Auge nach dem Reporterteam, in der Hoffnung, dass sie mich auch befragen würden nach meinem Frust über die Bahn und den Streik und Weselsky – und legte mir schon ein paar deeskalierend-großzügige Sätze für den Fall der Fälle zurecht.

„Ach wissen Sie“, wollte ich antworten und einen tiefen Zug aus meiner Pfeife tun, „dieser Streik ist doch in 24 Stunden wieder vorbei, ich fühle natürlich (paff, paff) mit den vielen armen Menschen, die jetzt irgendwo stranden, aber was sind diese 24 Stunden Streik – auf die es ja ein gutes Recht gibt! – gemessen an den 365 Tagen im Jahr, an denen wir von einem FDP-Verkehrsminister regiert werden?“ So wollte ich also antworten, ich Pfeife, aber dann fuhr schon mein ICE ein, und selbst wenn er das in umgekehrter Reihenfolge getan hätte, wäre es mir egal gewesen. Es war so leer! Nichts ist schöner als eine großzügige Gönnerlaune ohne Detailkenntnis.

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Das war also mein schönstes Ferienerlebnis 2023. Mein schrecklichstes Ferienerlebnis dagegen waren zwei Wochen vorher vier Zugfahrten in Nordengland zwischen Manchester und Hull, bei denen einfach nichts funktionierte. Angeblich war Sturm, aber ist der nicht immer in England? Kein Zug fuhr pünktlich, alle waren überfüllt, ich lernte, dass „Verspätung wegen Verzögerung im Betriebsablauf“ im Neusprech der privatisierten englischen Bahnunternehmen „conges­tion“ genannt wird, fing mir eine miese Erkältung ein – und beschloss, nie wieder ein böses Wort über die deutsche Bahn zu sagen. Paff paff.

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Der Bahnstreik – mein schönstes Ferienerlebnis

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16.12.2023

Das war mein schönstes Ferienerlebnis 2023: Es war Donnerstagabend, und es war 18 Uhr, und der Berliner Hauptbahnhof war leer. Leer! Vier Stunden später erst sollte der GDL-Streik beginnen, aber die Gleise wirkten, als sei schon Weihnachten: Ein paar verstreute Menschen wie ich, ein Reporterteam von der ARD, das ein paar dieser Leute vor der Kamera interviewte, die kühle, weite Stille der Architektur – es war herrlich. Es war leer! Aber fast hätte mich die Bahn dann doch wieder um dieses Erlebnis gebracht.

„Bitte buchen Sie um, wir werden bestreikt“, hatte sie mich nämlich noch am Nachmittag per Push-Mitteilung angefleht. Dabei wäre ich da gar nicht hineingeraten, weil ich früh genug abfahren sollte. Vielleicht wollte die Bahn mit dieser Warnung aber gar nicht mich, sondern sich selbst schützen – damit ich mich nicht an diesen Anblick eines komfortablen, ruhigen Bahnhofs gewöhne und am Ende noch auf die Idee komme, Bahnfahren........

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