Im Bemühen, die Gesellschaft wieder zusammenzubringen, sollte man nicht auf Ruckreden aus dem Schloss Bellevue bauen, sondern im Alltag anfangen, dort, wo sich ­jeder quasi jeden Tag bewegt: im Straßenverkehr. Der ist der perfekte Ort, um sich abzu­reagieren, den Gefühlen arglos freien Lauf zu lassen. Im Auto kann man brüllen, ohne dass es der Adressat hört und dadurch schlecht druff kommt. Man kann auf dem Fahrrad fahren und einer entgegen­radelnden Frau – oder einem Mann – einen Kuss zuwerfen, ohne einen schiefen Blick befürchten zu müssen, denn dann ist man ja schon zehn ­Meter weiter.

Die ethisch interessantesten Situationen ergeben sich, wenn man mit dem Auto oder dem Rad an eine Fahrbahnverengung kommt. In der Straßenverkehrsordnung heißt es ­dazu: „Wer an einer Fahrbahnverengung, einem Hindernis auf der Fahrbahn oder einem haltenden Fahrzeug links vorbei­fahren will, muss entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen.“ Sprich: Dieser Fall ist klar geregelt.

Wer sich vorschrifts­gemäß verhält, tut nur, was er tun muss. Kein Grund, ihr oder ihm dafür Respekt zu zollen. Man applaudiert ja auch nicht, wenn einer an einer roten Ampel stehen bleibt. Und dennoch passiert es gar nicht so selten, dass jemand, wenn er dem anderen den Vortritt lässt, zum Dank die Lichthupe bekommt. Diese kann auch ein Zeichen von Wut sein – umso schöner, dass sie semantisch in ihr Gegenteil verkehrt werden kann.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Zeigefinger, der bei Tages­licht normalerweise anstelle der Lichthupe zum Einsatz kommt. Der Zeigefinger ist nicht unbedingt sympathisch: eine Geste des Triumphs, der Drohung, des Übereifers. Umso schöner, wenn er dann mal nur lässig vom Lenkrad gehoben wird. Das hat etwas von der einheitsstiftenden Begrüßung unter Motorrad- und Rennradfahrern. Es ist darüber hinaus eine Absage an den Satz: „Für dich rühre ich keinen Finger.“

Im Übrigen gibt es in Fahrbahnverengungslagen auch andere Arten, das eigene Ethos zu trainieren. Wenn da zum Beispiel ein Bus oder ein Auto mit der Aufschrift „Johanniter“ entgegenkommt, kann man demonstrativ warten, auch wenn man eigentlich Vorfahrt hat. Wenn man als Radfahrer merkt, dass ein SUV an einer Fahrbahnverengung hinter einem ist und wegen seiner Breite nicht vorbeikommt, kann man kurz auf den Gehsteig ausweichen und so darauf verzichten, den SUV-Fahrer spüren zu lassen, welch idiotische Kaufentscheidung er oder sie getroffen hat.

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QOSHE - Mit einem Fingerzeig Größe zeigen - Timo Frasch
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31.01.2024

Im Bemühen, die Gesellschaft wieder zusammenzubringen, sollte man nicht auf Ruckreden aus dem Schloss Bellevue bauen, sondern im Alltag anfangen, dort, wo sich ­jeder quasi jeden Tag bewegt: im Straßenverkehr. Der ist der perfekte Ort, um sich abzu­reagieren, den Gefühlen arglos freien Lauf zu lassen. Im Auto kann man brüllen, ohne dass es der Adressat hört und dadurch schlecht druff kommt. Man kann auf dem Fahrrad fahren und einer entgegen­radelnden Frau – oder einem Mann – einen Kuss zuwerfen, ohne einen schiefen Blick befürchten zu müssen, denn dann ist man ja schon zehn ­Meter weiter.

Die ethisch interessantesten Situationen ergeben sich, wenn man mit dem Auto oder dem Rad an eine Fahrbahnverengung kommt. In der Straßenverkehrsordnung heißt es ­dazu: „Wer an........

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