Die Depression liegt wie Mehltau über unserem Land. Was kann jeder Einzelne tun, damit die eigene Stimmung besser wird – und am Ende die von uns allen? Wichtig: kein Homeoffice, sondern jeden Morgen raus, und zwar mit dem Fahrrad, vor allem in der großen Stadt. Und dann mit nichts als dem Sattel unterm Po vorbeifliegen an den im Stau stehenden Karossen. So ähnlich muss sich David gefühlt haben, als er Goliath mit der Steinschleuder erledigte.

Man sollte aber nicht irgendwie mit dem Rad durch die Stadt, sondern freihändig. Sich freie Hand lassend. Lenken mit den Lenden. Rad­fahren als Tanz durch die City. Armfreiheit ist noch besser als Beinfreiheit. Wer freihändig fährt, richtet den Oberkörper auf. Das ist gut für die äußere und innere Haltung. Man signalisiert sich und den anderen, dass man mit Gegenwind klarkommt. Stromlinienförmigkeit ist was für Porsche-Fahrer.

Freihändigkeit fördert auch die ­Fähigkeit zum Multitasking. Selbst wenn man auf dem Rad nicht nebenbei E-Mails beantwortet, ist es eine permanente Übung im Balancehalten – eine der Kardinaltugenden in diesen extremen Zeiten. Es ist außerdem eine beglückende Auto­suggestion. Wo und wann richten sich Radrennfahrer auf? Richtig: auf den ­letzten Metern, kurz bevor sie es geschafft haben und als Erste über die Ziellinie ­fahren, die Arme gen Himmel gereckt.

Vergleichbar mit diesem Hochgefühl ist nur der Flow, in den man kommt, wenn man mit dem Rad reihenweise rote ­Ampeln überfährt. Man spart so nicht nur Zeit und kann entspannter fahren, was verhindert, dass man durch­geschwitzt im Büro ankommt. Man dokumentiert auch, dass die irdischen Gesetze, gemacht, um Menschen aufzuhalten, für einen selbst nicht gelten, dass man mithin unstoppable ist und etwas Besonderes, outside the box. Von ­wegen: „War immer schon so.“ Oder: „Geht gar nicht.“ Geht nicht, gibt’s nicht! Der PC oder der Buchdruck sind sicher nicht von Menschen erfunden worden, die an roten Ampeln stehen bleiben.

Be­sonders erhebend ist es übrigens, wenn man einen emsigen, tief über den Lenker gebeugten Spießer, nachdem er einen überholt hat, an der nächsten roten Ampel stehen lässt. Da weiß man, wie sich der Igel im ­Märchen vom Hasen und dem Igel gefühlt haben muss: großartig!

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Nun werden manche sagen: Freihändig fahren ist gefährlich, über rote Ampeln fahren ver­boten. Aber beides zusammen? Kriminell! Was, wenn das jeder machen würde? Da sagen wir: Das ist genau dieses Bedenkenträgertum, diese Verbotsideologie, die den Standort Deutschland an die Wand fährt.

Mal abgesehen davon, dass ja auch andere Vorschriften nicht eingehalten werden, Stichwort Völkerrecht, ist es einfach ein Fakt, dass der Verkehr zusammenbrechen würde, wenn nicht hin und wieder Pragmatiker mit gesundem Menschenverstand eine rote Ampel überfahren würden. Tatsächlich gibt es viel zu viele Ampeln, und damit, haha, ist nicht nur die in Berlin ­gemeint.

So wie in Bayern laut Markus ­Söder für jedes neue Gesetz zwei alte getilgt werden sollen, so sollte man für jede neue Ampel zwei bestehende abbauen. Und für alle Radfahrer, die mehrere Jahre bewiesen haben, dass sie sich ­sicher im Verkehr bewegen können (etwa durch ­unfallfreies freihändiges Überfahren roter Ampeln), sollten rote Ampeln keine ­Geltung mehr haben.

QOSHE - Freihändig über rote Ampeln? Warum eigentlich nicht! - Timo Frasch
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Freihändig über rote Ampeln? Warum eigentlich nicht!

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19.02.2024

Die Depression liegt wie Mehltau über unserem Land. Was kann jeder Einzelne tun, damit die eigene Stimmung besser wird – und am Ende die von uns allen? Wichtig: kein Homeoffice, sondern jeden Morgen raus, und zwar mit dem Fahrrad, vor allem in der großen Stadt. Und dann mit nichts als dem Sattel unterm Po vorbeifliegen an den im Stau stehenden Karossen. So ähnlich muss sich David gefühlt haben, als er Goliath mit der Steinschleuder erledigte.

Man sollte aber nicht irgendwie mit dem Rad durch die Stadt, sondern freihändig. Sich freie Hand lassend. Lenken mit den Lenden. Rad­fahren als Tanz durch die City. Armfreiheit ist noch besser als Beinfreiheit. Wer freihändig fährt, richtet den Oberkörper auf. Das ist gut für die äußere und innere Haltung. Man signalisiert sich und den anderen, dass man mit Gegenwind klarkommt. Stromlinienförmigkeit ist was für........

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