Spätestens seit der Documenta im vergangenen Jahr ist für alle Kulturverwalter eine völlig ungeklärte Frage dringlich geworden: Wie verbindet man den Schutz der Kunstfreiheit mit der Kontrolle darüber, dass es nie wieder einen solchen Antisemitismus-Skandal im eigenen Verantwortungsbereich gibt? Es geht darum, so formulierte es der Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann im November im Gespräch mit der F.A.S., „Instrumente für einen klaren Umgang mit dem Thema Antisemitismus“ zu finden, um so „neu zu definieren, wie eine politische, gesellschaftsorientierte Kunst in Zukunft präsentiert werden kann“. Bevor die Definition eines solchen Rahmens gefunden ist, wollte sich Hoffmann nicht auf die Erörterung von konkreten Zweifelsfällen einlassen, etwa davon, wie mit Künstlern zu verfahren sei, die einmal eine BDS-Petition unterschrieben haben: „Wir müssen diese Frage einmal abschließend im gesamten Feld klären, denn sie betrifft ja nicht nur die Documenta.“

Die „Antidiskriminierungsklausel“ des Berliner Kultursenators Joe Chialo wird jetzt so heftig umkämpft, weil sie ein Modell für einen solchen Rahmen zu liefern versucht. Seit Dezember muss sich jeder, der vom Kultursenat Fördergelder bekommen will, „zu einer vielfältigen Gesellschaft und gegen jede Form von Antisemitismus gemäß der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und ihrer Erweiterung durch die Bundesregierung“ bekennen. In einem offenen Protestbrief Berliner Kulturaktivisten und in einer Anhörung im Berliner Abgeordnetenhaus wurde die Klausel kritisiert. Der Streit konzentrierte sich dabei auf die Tauglichkeit der IHRA-Antisemitismus-Definition für eine verwaltungsrechtliche Bestimmung, auf die fehlende Absprache des Senators mit anderen Parteien und mit der Kulturszene sowie auf die Frage, ob ein solcher „Bekenntniszwang“ unzulässig in die Kulturproduktion eingreift.

QOSHE - Ein Versuch der Selbstentlastung - Mark Siemons
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Ein Versuch der Selbstentlastung

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12.01.2024

Spätestens seit der Documenta im vergangenen Jahr ist für alle Kulturverwalter eine völlig ungeklärte Frage dringlich geworden: Wie verbindet man den Schutz der Kunstfreiheit mit der Kontrolle darüber, dass es nie wieder einen solchen Antisemitismus-Skandal im eigenen Verantwortungsbereich gibt? Es geht darum, so formulierte es der Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann im November im Gespräch mit der F.A.S., „Instrumente für einen klaren Umgang mit........

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