Gibt es Umstände, die aus einer nicht antisemitischen Aussage eine antisemitische Aussage machen? Diese Frage stellt sich, da der bei der Evangelischen Verlags­anstalt erschienene Sammelband „Angst, Politik, Zivilcourage“ gerade vom Markt genommen wurde.

Als ­Herausgeber des Buchs, das Munchs „Schrei“ auf dem Cover trägt und mit dem Untertitel „Rückschau auf die Corona-Krise“ aufwartet, zeichnen Thomas A. Seidel und Sebastian Kleinschmidt verantwortlich. Das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) ist Mehrheitsgesellschafter des Verlags und gibt zu bedenken, der Band enthalte Passagen, „die keinen Zweifel lassen, dass sie weder mit den publizistischen Standards der evangelischen Publizistik vereinbar noch durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind“.

Das bezieht sich auf Heimo Schwilks Beitrag „Angst und Auflage – Deutsche Medien im Panikmodus“. Darin finde sich eine „zutiefst antisemitische“ Formulierung. Der Journalist beklagt, dass „die hochmoralische Bundes­republik“ an immer mehr Staaten Reparationen für „lange zurückliegende Kriegszerstörungen“ zahlen solle: „Das schlechte Gewissen lässt sich nämlich auch anzapfen. Wie das geht, haben uns die Erben der israelischen Opfer der Olympischen Spiele von München 1972 perfekt vorgeführt.“

Anzapfen. Perfekt vorgeführt. Man darf das wohl wie folgt verstehen: Andere beherrschen diese Praxis keineswegs so gut wie die Erben der Opfer.

Inzwischen hat das GEP die Angehörigen um Entschuldigung gebeten. Nun wüssten wir allerdings gerne, warum Schwilks Passus plötzlich als das betrachtet wird, was er von vornherein gewesen ist: antisemitisch. Ein Sammelband wird betreut, lektoriert und korrigiert.

Es gibt mithin etliche Arbeitsschritte, bei denen irgendjemand irgendwann hätte „Moment mal!“ rufen können. Ist Schwilks Polemik ungedruckt etwa noch kein Antisemitismus? Ist das eine Frage der Öffentlichkeit? Sind an dem Band beteiligte Leute blind, während alle anderen klarsehen? Zu den anderen zählen die Theologen Kristin Merle und Hans-Ulrich Probst, die in der evangelischen Zeitschrift „Zeitzeichen“ mit Sorgfalt darlegen, dass in dem Buch demokratiefeindliche Positionen ausgebreitet werden.

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Apropos, unter den Autoren findet sich auch André Kruschke, Mitglied der Basisdemokratischen Par­tei Deutschland. Einige ihrer Funktionäre fielen in den vergangenen Jahren auf, weil sie den Holocaust verharmlosten. Oder Vera Lengsfeld, die mit der AfD sympathisiert.

Gibt es, noch einmal gefragt, Umstände, die aus einer nicht anti­semitischen Aussage eine antisemi­tische Aussage machen? Nein, es gibt nicht antisemitische Aussagen, und es gibt antisemitische Aussagen. Daran hätten sich alle, die den Sammelband zu verantworten haben, vor der Publikation erinnern sollen.

QOSHE - Zutiefst antisemitisch - Kai Spanke
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Zutiefst antisemitisch

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04.12.2023

Gibt es Umstände, die aus einer nicht antisemitischen Aussage eine antisemitische Aussage machen? Diese Frage stellt sich, da der bei der Evangelischen Verlags­anstalt erschienene Sammelband „Angst, Politik, Zivilcourage“ gerade vom Markt genommen wurde.

Als ­Herausgeber des Buchs, das Munchs „Schrei“ auf dem Cover trägt und mit dem Untertitel „Rückschau auf die Corona-Krise“ aufwartet, zeichnen Thomas A. Seidel und Sebastian Kleinschmidt verantwortlich. Das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) ist Mehrheitsgesellschafter des Verlags und gibt zu bedenken, der Band enthalte Passagen, „die keinen Zweifel lassen, dass sie weder mit den publizistischen Standards der evangelischen Publizistik vereinbar noch durch die........

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