Am Dienstagnachmittag hat der Kulturausschuss des Bundestags über die Berlinale gesprochen, vor allem über die Abschlussgala, bei welcher einige Preisträger, unwidersprochen und heftig beklatscht vom Publikum im Saal, den Krieg in Gaza einen Genozid genannt hatten und der israelischen Armee das „Abschlachten“ von Palästinensern vorgeworfen hatten. Im Ausschuss sagten fast alle, was sie seither immer gesagt haben, dass sie nämlich dagegen seien. Claudia Roth wies darauf hin, dass, wenn sie auf die Bühne gestürmt wäre und die Israelhasser zurechtgewiesen hätte, das Desaster noch größer gewesen wäre.

Nur Tricia Tuttle, die neue Berlinale-Chefin, die, weil sie eben neu ist, noch nicht viel gesagt hat, sagte etwas Neues: dass es von außen schwierig sei, die Komplexität der Debatte in Deutschland zu verstehen. Und dass es ihr aber gelungen sei, mehr Verständnis dafür zu entwickeln, „wie sehr man auch den Holocaust mitdenken muss, wenn es um die Frage des Antisemitismus“ gehe. Das ist richtig und grundfalsch zugleich – und beschreibt damit perfekt ein deutsches Dilemma, das man nicht auflösen oder irgendwie aus dem Weg räumen kann.

Dessen man sich aber umso dringender bewusst sein sollte: Einerseits leitet sich aus der Schuld der Großväter und Urgroßväter eben eine Verpflichtung ab, nicht nur gegenüber Israel, auch gegenüber den hier lebenden Juden, die in Deutschland nicht noch einmal antisemitische Parolen hören oder lesen sollten. Andererseits darf eine gewisse Hellhörigkeit, eine gewisse Sensibilität gegenüber dem Hass auf Juden und den jüdischen Staat nicht als pure Macke der Deutschen, als ganz spezielle und exklusiv deutsche Neurose gewertet werden. Der Antisemitismus verwandelt sich nicht in etwas Harmloses, wenn ein Kanadier oder eine Französin vom Genozid sprechen. Und der Einspruch dagegen ist kein Zeichen von Provinzialität.

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Es ist trotzdem sinnlos, darüber zu beraten, wie man bei der nächsten Berlinale solche Auftritte verhindern könnte. Man kann es nicht, weil jeder Versuch, Gesinnungen zu prüfen oder Bekenntnisse zu verlangen, das Ende dieses internationalen Festivals bedeutete. Man kann trotzdem etwas tun, als Würdenträgerin oder Verantwortlicher. Man kann aufhören, ständig die Floskel, wonach man „gegen jede Form von Antisemitismus, Rassismus, Menschenfeindlichkeit“ sei, herunterzuleiern. Die sagt rein gar nichts in ihrer Indifferenz. Man kann sich stattdessen explizit zu Israel bekennen, zu den deutschen Juden, zu genau dieser Freundschaft und Solidarität. Das Richtige laut zu sagen ist am Ende wirksamer als der Versuch, das Falsche zu verbieten.

QOSHE - Es ist nicht neurotisch, den Antisemitismus zu bekämpfen - Claudius Seidl
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Es ist nicht neurotisch, den Antisemitismus zu bekämpfen

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11.04.2024

Am Dienstagnachmittag hat der Kulturausschuss des Bundestags über die Berlinale gesprochen, vor allem über die Abschlussgala, bei welcher einige Preisträger, unwidersprochen und heftig beklatscht vom Publikum im Saal, den Krieg in Gaza einen Genozid genannt hatten und der israelischen Armee das „Abschlachten“ von Palästinensern vorgeworfen hatten. Im Ausschuss sagten fast alle, was sie seither immer gesagt haben, dass sie nämlich dagegen seien. Claudia Roth wies darauf hin, dass, wenn sie auf die Bühne gestürmt wäre und die Israelhasser zurechtgewiesen hätte, das Desaster noch größer gewesen wäre.

Nur Tricia Tuttle, die neue Berlinale-Chefin, die, weil sie eben neu ist, noch nicht viel gesagt........

© Frankfurter Allgemeine


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