Von Tradition mag man bei der 2019 begründeten jährlichen „Rede an Europa der Wiener Festwochen“ noch nicht sprechen, zumal drei der fünf bislang mög­lichen Ausrichtungen der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen sind. Nach dem amerikanischen Historiker Timothy Snyder zum Auftakt und der ukrainischen Menschenrechts­aktivistin Oleksandra Matvijtschuk im Vorjahr wird sie morgen Abend von dem israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm gehalten, wieder auf dem Judenplatz in der Inneren Stadt, der nun tatsächlich für Tradition steht: Hier lag der Mittelpunkt des ­jüdischen Lebens in Wien bis zur Umsiedlung in die heutige Leopoldstadt 1624 (der 1670 die Vertreibung auch von dort folgte). Schon seit 1437 trägt der Platz seinen Namen, und seit 2000 beherbergt er das von Rachel Whiteread geschaffene offizielle Mahnmal für die österreichischen Opfer der Schoa.

Das Terrain ist also ein denkbar geeignetes für appellative Reden, wie sie sich die Wiener Festwochen und einer ihrer Hauptsponsoren, die aus einer Sparkasse hervorgegangene Erste Stiftung, von der Reihe versprechen, und zugleich ein heikles, wenn das Thema spezifisch jüdisch ist.

Das war bei Snyder und Matvijtschuk nicht der Fall, ­Boehm jedoch will sich „den brisanten Fragen widmen, warum der israelisch-palästinensische Konflikt eine Gefahr für die europäische Identität darstellt“, und weil er in seinen Büchern, vor allem „Haifa Republic“ (deutsch „Israel – eine Utopie“), eine Zukunft seines Heimatlandes als binationaler Staat beschwört und der Zweistaatenlösung genauso eine Absage erteilt wie einem Israel, das seine arabischen Bürger benachteiligt, haben jüdische Institutionen in Österreich gegen seinen Auftritt auf dem Judenplatz protestiert. Allen voran Ariel Muzicant, früher Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien und nun Interimspräsident der Europäischen Jüdische Vereinigung. Er ließ sich zu der Bemerkung hinreißen, wenn er noch jünger wäre, würde er morgen Eier auf Boehm werfen.

Daraufhin zog die Erste Stiftung ihre Unterstützung für die diesjährige „Rede an Europa“ zurück, aber die Festwochen halten an Boehm fest. Der wiederum in einem Gespräch mit der Tageszeitung „Der Standard“ feststellte: „Wenn die Legitimität dieser Rede infrage gestellt wird, dann nicht, weil ich gegen die Menschenwürde bin, sondern weil ich sie unterstütze“, und Muzicants Intervention „legitim, aber besorgniserregend“ nannte.

Er hat recht. Erst am gestrigen Sonntag war in Frankfurt die Vor­premiere des Spielfilms „Golda“ über die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir und deren Rolle im Jom-Kippur-Krieg ausgefallen, nachdem beim veranstaltenden Kino Proteste gegen einen proisraelischen Diskussionsteilnehmer des Rahmenprogramms eingegangen waren.

So machen beide Seiten ein Gespräch über den israelisch-palästinensischen Konflikt unmöglich, weil sie jeweils auf die exklusive Wahrheit ihrer Position beharren. Der Skepsis gegenüber ihm, so Boehm, liege „die irrige Annahme zugrunde, dass die Realität einfach ist“. Diese Sehnsucht nach Vereinfachung macht es erst richtig kompliziert, nicht nur in Wien. Das hat Tradition.

QOSHE - Am Wiener Judenplatz - Andreas Platthaus
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Am Wiener Judenplatz

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06.05.2024

Von Tradition mag man bei der 2019 begründeten jährlichen „Rede an Europa der Wiener Festwochen“ noch nicht sprechen, zumal drei der fünf bislang mög­lichen Ausrichtungen der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen sind. Nach dem amerikanischen Historiker Timothy Snyder zum Auftakt und der ukrainischen Menschenrechts­aktivistin Oleksandra Matvijtschuk im Vorjahr wird sie morgen Abend von dem israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm gehalten, wieder auf dem Judenplatz in der Inneren Stadt, der nun tatsächlich für Tradition steht: Hier lag der Mittelpunkt des ­jüdischen Lebens in Wien bis zur Umsiedlung in die heutige Leopoldstadt 1624 (der 1670 die Vertreibung auch von dort folgte). Schon seit 1437 trägt der Platz seinen Namen, und seit 2000 beherbergt er das von Rachel Whiteread........

© Frankfurter Allgemeine


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