Im „gefühlten Frühling“ ist es in vieler Munde. Und muss sich den Vorwurf übertriebener Gefühligkeit gefallen lassen. Zu Unrecht – das Wort „gefühlt“ nimmt sich selbst gar nicht so ernst.

Es gibt recht unterschiedliche Arten, wie erwachsene (das bleibt hier einfach mal so stehen) Menschen neue Wörter in Gebrauch nehmen. Einerseits sehr willentlich. Weil etwas gefällt; den Anschein der Klugheit („arbiträr“) oder Jugendlichkeit („submarinen“) erweckt. Wörter können sich aber auch dezent einfinden, ihr Plätzchen unauffällig erobern, sich ganz selbstverständlich anschmiegen an andere. Eines dieser völlig unprätentiösen Worte ist „gefühlt“.

„Gefühlt“ wie in der gefühlten Wahrheit, den gefühlten 30 Grad oder dem Umstand, dass man gefühlt seit drei Tagen nichts gegessen hat. Man meint damit „unkorrekt geschätzt“, völlig ohne Wahrheitsanspruch, ganz im Gegenteil: übertrieben. Es liegt immer eine Ironie darin, etwas Neckisches.

Wer das Wort nicht mag, wirft ihm übertriebene Gefühligkeit vor. Und jenen, die es in ihre Sätze weben, faktenabweisende Ichbezogenheit. Doch der bleischwere Vorwurf passt nicht. „Ja eh“, sagt das Wörtchen schulterzuckend, „mit mir wird nicht definiert und nicht differenziert, nicht gemessen und gewogen, ich bin, was ich bin“. Ein augenzwinkernder Ausdruck der persönlichen Wahrheit. Aber nein, das Wort „Wahrheit“ ist schon zu groß – es ist Ausdruck einer Momentaufnahme. Nichts ist so flüchtig wie die Gegenwart, und nur hier fühlt sich das Wort wohl.

Und das Wort hat auch seinen Platz. Ist der gefühlte Frühlingsbeginn nicht ebenso wichtig wie der kalendarische? Braucht der gefühlt beste Marmorkuchen der Welt einen Stempel von Gourmets? Wenn ein Buch gefühlt 2000 Seiten hat, war‘s mir gerade zu lang(weilig), wenn ein Mensch gefühlte 90 Jahre alt ist, könnte er ein wenig Schwung brauchen. Das Wort gibt nicht vor, die Wahrheit gepachtet zu haben, ganz im Gegenteil.

Schwierig wird es doch erst, wenn man Gefühle objektivieren will, wie etwa bei der „gefühlten Temperatur“, wenn sie als Maßstab verwendet wird nicht mehr nur das Gefühl Einzelner beschreibt. Denn „gefühlt“ ist ein Wort für den Privatgebrauch, es will nicht von Politikern, von Lehrern, von Journalisten benutzt werden.

Es ist in seinem kleinen Bereich sehr erfolgreich, und zwar über verschiedene Altersgruppen hinweg. Das liegt wohl auch an der worteigenen Effizienz. Wie müsste man, schlingernd und auf Abwegen, den „gefühlt 90-Jährigen“ korrekt wiedergeben? Mit „einem Mann, der bei mir, in diesem Moment, den Eindruck erweckt, er sei weitaus älter, als er ist, was aber gar nicht vorwurfsvoll gemeint ist“? Lassen wir es doch bleiben. Gefühlt ist gefühlt.

QOSHE - Ein Wort, das die Wahrheit nicht gepachtet hat: „gefühlt“ - Rosa Schmidt-Vierthaler
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Ein Wort, das die Wahrheit nicht gepachtet hat: „gefühlt“

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23.03.2024

Im „gefühlten Frühling“ ist es in vieler Munde. Und muss sich den Vorwurf übertriebener Gefühligkeit gefallen lassen. Zu Unrecht – das Wort „gefühlt“ nimmt sich selbst gar nicht so ernst.

Es gibt recht unterschiedliche Arten, wie erwachsene (das bleibt hier einfach mal so stehen) Menschen neue Wörter in Gebrauch nehmen. Einerseits sehr willentlich. Weil etwas gefällt; den Anschein der Klugheit („arbiträr“) oder Jugendlichkeit („submarinen“) erweckt. Wörter können sich aber auch dezent einfinden, ihr Plätzchen unauffällig erobern, sich ganz selbstverständlich anschmiegen an andere. Eines dieser völlig unprätentiösen Worte ist „gefühlt“.........

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