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Die Grünen haben über Jahrzehnte Politik, Gesellschaft und Zeitgeist geprägt. Während Deutschland nach rechts rückt, steht die Partei vor einem Härtetest.

Heute, 06:15 Uhr

Nur neun Jahre lang haben die Grünen Deutschland regiert. Diese kurze Spanne täuscht über ihre Erfolgsgeschichte, ja die prägende Rolle der Grünen in der jüngsten deutschen Geschichte hinweg. Die Grünen haben seit ihrer Gründung 1980 in Karlsruhe, wo an diesem Donnerstag ihr Parteitag beginnt, dieses Land verändert wie keine andere Partei. Man denke nur an: Atomausstieg, Europäisierung, Familienpolitik, Gleichstellung, Umweltschutz, Zuwanderung und, und, und.

Der Einfluss der Grünen prägt Politik und noch viel mehr, nämlich Gesellschaft, Lebensgefühl, Zeitgeist. In den 1980er Jahren haben die Grünen ein westdeutsches Milieu geschaffen, überschaubar, aber wirksam und folgenreich: Friedens- und umweltbewegt, post-materiell und post-national.

Bis in die letzten Jahre entwickelte sich der grüne Zeitgeist, ideologisch abgemildert, zum politischen Mainstream. In welchem anderen Land von Deutschlands Größe existiert ein derart ausgeprägtes Umweltbewusstsein samt der Bereitschaft, sich selbst einzuschränken?

Am Donnerstag (23. November) beginnt um 17 Uhr der Grünen-Parteitag in Karlsruhe – in jener Stadt, in der sich die Grünen 1980 gegründet haben.

Die Bundesdelegiertenkonferenz, so der offizielle Titel, dauert bis Sonntag. Voraussichtlich werden am Donnerstag Anträge zum Gaza-Krieg und Migration debattiert und beschlossen. Geplant ist ebenfalls ein Rückblick auf die Landtagswahlen 2023.

Am Donnerstag sollen laut der vorläufigen Planung (mit Verzögerungen ist zu rechnen) unter anderem reden: Parteichef Omid Nouripour (18.15 Uhr), 19 Uhr Wirtschaftsminister Robert Habeck, 20.50 Uhr Außenministerin Annalena Baerbock zum Gaza-Krieg, 21.45 Uhr Nouripour zu Asyl und Migration, 22.25 Uhr Habeck zu Asyl und Migration, 22.45 Uhr Parteichefin Ricarda Lang. (dpa)

© dpa/Harald Tittel

CDU, CSU und SPD haben neidisch auf die Grünen geblickt, ihre Programmatik teilweise grün angestrichen. Eine Kanzlerin Angela Merkel wäre ohne grüne Vorarbeit kaum möglich gewesen. Merkels Flüchtlingspolitik 2015 war grüne Politik pur – während die Grünen in der Opposition saßen. Da war es nur konsequent, dass Winfried Kretschmann, aufgestiegen zum grünen Ministerpräsidenten im wohlhabenden Baden-Württemberg, bekannte: „Ich bete jeden Tag für Angela Merkel.“

Kretschmann verkörpert wie einst Joschka Fischer Erfolg und Pragmatismus der Grünen. Beide Männer sind Antipoden eines grünen Dogmatismus, der bis heute ebenso zur DNA dieser Partei zählt. Viele Grünen neigen dazu, missionieren zu wollen. Keine Partei ist (wenn auch unbewusst) so religiös wie die Grünen. Sie neigt zu Bekenntnissen.

Die grüne, zuweilen sauertöpfische Neigung, anderen Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben, zu reisen und zu heizen haben, ist weiter vorhanden. Gleiches gilt für die Überzeugung, selbst immer das Gute, Richtige, Vernünftige zu tun, und von allen anderen exakt dies abzuverlangen.

Längst hat diese Attitüde Gegenreaktionen ausgelöst: Immer mehr Bürger möchten nicht belehrt, nicht missioniert werden. Sie sind politische Predigten und moralische Hybris leid. Längst spüren die Grünen das. Mühsam ändern sie ihre Philosophie, wonach Deutschland das Weltklima retten muss, am besten morgen schon, hin zu einem pragmatischen Zugang: Klimaschutz schafft Jobs, Zukunft statt Verzicht.

Mit Robert Habeck hat in diesem Frühling ausgerechnet jener Grüne, der Bindungskraft in die politische Mitte besitzt, weite Teile der Gesellschaft verprellt. Das technokratisch, in seiner moralischen Überhöhung apolitische „Heizungsgesetz“ hat die Grünen noch weiter in die Defensive getrieben. Einst galt es als chic, grün zu sein. Heute ist es, zumal im Osten, fast ein Stigma. Doch Vorsicht: Schon das grüne Ergebnis bei der Bundestagswahl 2021 galt parteiintern als bescheiden. Und es ist kein Naturgesetz mehr, dass junge Menschen klimabewegt und grün ticken.

Während Deutschland nach rechts rückt, der Scheitelpunkt der jahrzehntelangen Liberalisierung erreicht zu sein scheint, endet die beachtliche grüne Erfolgsserie. Beim Regieren tun sich die Grünen erkennbar schwer. Sie versuchen es mit Dogmatismus (erster Versuch des Heizungsgesetzes, Kindergrundsicherung), Pragmatismus (Asylpolitik, zweiter Versuch des Heizungsgesetzes) und kluger Führung (Ukraine-Politik). Seit voriger Woche steht die grüne Klima- und Industriepolitik vollends infrage. Das besitzt Sprengkraft.

Ist das grüne Zeitalter also vorbei, sind die Grünen Opfer ihres eigenen Erfolgs? Nein, mitnichten nur wegen der Klimapolitik. Der Traum von der Volkspartei ist nicht ausgeträumt. Doch die Grünen stehen angesichts des gesellschaftspolitischen Umschwungs vor einem Härtetest. Sie werden ihn nur mit empathischem Pragmatismus und mit Mut bestehen. Für all das steht Robert Habeck.

Hinzu kommt: Er ist bereit und fähig, politische Entscheidungen zu erklären und sich selbst zu hinterfragen. Das tut gut (in) einem Land, in dem der Bundeskanzler gern verbale Versatzstücke produziert und oder einfach nur schweigt.

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Grünen-Parteitag in Karlsruhe : Keine Partei hat Deutschland mehr verändert

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23.11.2023

© dpa/Albert Ostertag

Die Grünen haben über Jahrzehnte Politik, Gesellschaft und Zeitgeist geprägt. Während Deutschland nach rechts rückt, steht die Partei vor einem Härtetest.

Heute, 06:15 Uhr

Nur neun Jahre lang haben die Grünen Deutschland regiert. Diese kurze Spanne täuscht über ihre Erfolgsgeschichte, ja die prägende Rolle der Grünen in der jüngsten deutschen Geschichte hinweg. Die Grünen haben seit ihrer Gründung 1980 in Karlsruhe, wo an diesem Donnerstag ihr Parteitag beginnt, dieses Land verändert wie keine andere Partei. Man denke nur an: Atomausstieg, Europäisierung, Familienpolitik, Gleichstellung, Umweltschutz, Zuwanderung und, und, und.

Der Einfluss der Grünen prägt Politik und noch viel mehr, nämlich Gesellschaft, Lebensgefühl, Zeitgeist. In den 1980er Jahren haben die Grünen ein westdeutsches Milieu geschaffen, überschaubar, aber wirksam und folgenreich: Friedens- und umweltbewegt, post-materiell und post-national.

Bis in die letzten Jahre entwickelte sich der grüne Zeitgeist, ideologisch abgemildert, zum politischen Mainstream. In welchem anderen Land von Deutschlands Größe existiert ein derart ausgeprägtes Umweltbewusstsein samt der Bereitschaft, sich selbst einzuschränken?

Am Donnerstag (23. November) beginnt um 17 Uhr der Grünen-Parteitag in........

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