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Der Genozid-Prozess gegen Israel und der deutsche Umgang mit extremistischen Gefahren haben eines gemeinsam: Der Konsens der breiten Mitte muss ständig neu verteidigt werden.

16:06 Uhr | Update: heute, 15:37 Uhr

Mitunter setzt der Zufall die bemerkenswerten Pointen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag verkündet sein erstes Teilurteil in der Völkermord-Klage gegen Israel, kurz bevor Menschen in aller Welt des Holocausts gedenken.

Christoph von Marschall ist Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion. Er meint: Der Konsens der breiten Mitte muss ständig neu verteidigt werden, national wie international.

Das zeitliche Zusammentreffen unterstreicht, wie ungeheuerlich der Vorwurf ist. Und: Welcher Missbrauch des Rechtssystems darin liegt. Israel, so die abgewiesene Klage, bei der Südafrika von vielen Staaten des globalen Südens unterstützt wurde, soll in Gaza etwas Vergleichbares tun wie die Nazis beim industriellen Massenmord an sechs Millionen Juden?

Die Richter sehen keine Belege für einen Genozid, die ein sofortiges Eingreifen erfordern. Sie ordnen keine Waffenruhe an und fordern Israel lediglich auf, stärker auf den Schutz der Zivilisten zu achten.

Man kann Israel manches vorwerfen, mit guten Argumenten. Trifft es die richtigen Abwägungen zwischen militärischen Zielen und der Auflage des Völkerrechts, Zivilisten zu schützen? Benutzen Mitglieder der Regierung Netanjahu eine verrohte Sprache, die in den Palästinensern keine Mitmenschen mehr erkennt? Ist sie noch bereit, den Teilungsplan der Vereinten Nationen und die Zwei-Staaten-Lösung als Friedensplan zu akzeptieren?

Der Vorwurf des vorsätzlichen Genozids an Palästinensern ist jenseits des Nachvollziehbaren. Die Definition des absichtlichen Massenmords auf Grund von Volkszugehörigkeit, Religion und anderen Kriterien trifft eher auf das Vorgehen der Hamas zu. Bei ihrem Terrorangriff am 7. Oktober machte sie keinen Unterschied zwischen Militär und wehrlosen Zivilisten. Sie erkennt das Existenzrecht Israels nicht an und würde, wenn sie die Mittel dazu hätte, das jüdische Volk vernichten.

Die Bundesregierung hatte die Völkermord-Klage von Beginn an für absurd gehalten. Die meisten Deutschen haben – bei allen Vorbehalten gegen Israel in Teilen der Gesellschaft – ein Gespür für den Unterschied zwischen einzelnen Kriegsvergehen und Völkermord.

Vor allem aber verdrängt die breite Mitte der Gesellschaft nicht, welche unmenschlichen Verbrechen Deutsche vor acht Jahrzehnten begangen haben. Die Vernichtung der europäischen Juden steht am Holocaust-Tag im Zentrum, das Gedenken schließt andere Opfer der Nazis aber ausdrücklich mit ein.

Hunderttausende demonstrieren in diesen Tagen gegen Rechtsextremismus, gegen die Ablehnung von Migranten, gegen die Feinde von Demokratie und Rechtsstaat. Für den nachhaltigen Erfolg ist wichtig, dass dieses breite Bündnis der Mitte gegen extremistische Gefahren zusammenhält. Und weltanschauliche Differenzen zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts nicht zur Spaltung führen.

Der internationale Streit, ob man Israel Völkermord vorwerfen kann, sollte da eine Warnung sein. Wenn die Maßstäbe aus ideologischem Kalkül verschoben werden, beginnt eine gefährliche Spaltung. Sie gefährdet die Rechtsordnung. Ähnliches gilt, wenn Demokraten andere Demokraten vom gemeinsamen Protest gegen die Feinde der Demokratie ausschließen wollten.

Die Definition der Völkermord-Konvention waren klar. Und ebenso, dass Israels Vorgehen in Gaza sie nicht erfüllt.

Warum hat der Internationale Gerichtshof den Fall überhaupt ernsthaft verhandelt? Weil der globale Süden gegen das internationale Rechtssystem aufbegehrt, das ein Produkt der westlichen Aufklärung ist.

Südafrika und seine Helfer versuchten, die fehlenden Beweise durch Hilfskonstruktionen zu ersetzen: die Diskrepanz der Opferzahlen und die Bilder der Zerstörung in Gaza. Sie argumentieren, dass humanitäre Grundbedürfnisse wie Wasser, Energie, die Versorgung Neugeborener und die Vorbeugung von Seuchen nicht mehr befriedigt werden.

Das sind berechtigte Anklagen und womöglich Kriegsverbrechen. Der Internationale Gerichtshof wird die Vorwürfe untersuchen, wie er das nach jedem Gazakrieg getan hat, gegen beide Seiten, Israel und die Hamas.

Der ungerechtfertigte Völkermord-Vorwurf hat enorme emotionale Mobilisierungskraft entfaltet. Deutschland, die USA und andere westliche Staaten dürfen es nicht dabei belassen, dass der Fall glimpflich endet. Sie müssen dem globalen Süden verdeutlichen, dass bereits der Missbrauch internationaler Gerichte für ideologische Ziele die Rechtsordnung beschädigt.

Wenn der breite Konsens erodiert, auf der sie ruht, verliert sie ihre Überzeugungskraft. Den Schaden haben die Schwächsten.

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Völkermord-Klage und Holocaust-Gedenken : Klares Urteil aus Den Haag gegen die Erosion des Rechts

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26.01.2024

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Der Genozid-Prozess gegen Israel und der deutsche Umgang mit extremistischen Gefahren haben eines gemeinsam: Der Konsens der breiten Mitte muss ständig neu verteidigt werden.

16:06 Uhr | Update: heute, 15:37 Uhr

Mitunter setzt der Zufall die bemerkenswerten Pointen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag verkündet sein erstes Teilurteil in der Völkermord-Klage gegen Israel, kurz bevor Menschen in aller Welt des Holocausts gedenken.

Christoph von Marschall ist Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion. Er meint: Der Konsens der breiten Mitte muss ständig neu verteidigt werden, national wie international.

Das zeitliche Zusammentreffen unterstreicht, wie ungeheuerlich der Vorwurf ist. Und: Welcher Missbrauch des Rechtssystems darin liegt. Israel, so die abgewiesene Klage, bei der Südafrika von vielen Staaten des globalen Südens unterstützt wurde, soll in Gaza etwas Vergleichbares tun wie die Nazis beim industriellen Massenmord an sechs Millionen Juden?

Die Richter sehen keine Belege für einen Genozid, die ein sofortiges Eingreifen erfordern. Sie ordnen keine Waffenruhe an und fordern Israel lediglich auf,........

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