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Den Geiseln kommt im Machtpoker nur noch eine Nebenrolle zu. Die Hamas missbraucht die Verschleppten als Lebensversicherung, Netanjahu sorgt sich um sein politisches Überleben.

Heute, 13:27 Uhr

Es muss die Hölle auf Erden sein. Seit 206 Tagen befinden sich die Geiseln in der Gewalt der Hamas. Das sind an diesem Dienstag mehr als 4940 Stunden Leid und Misshandlung, Angst und Verzweiflung, Unsicherheit und Ungewissheit, Bangen und Hoffen.

Niemand kann auch nur annähernd ermessen, was jene körperlich und seelisch aushalten müssen, die von den Islamisten irgendwo im Gazastreifen unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden. Vermutlich zumeist in Tunnelanlagen, die hermetisch abgeriegelten Gefängnissen gleichkommen.

Vielleicht sind es noch 100 Verschleppte, die nicht wissen, ob sie jemals freikommen. Die vermutlich keine Kenntnis darüber haben, ob ihre Liebsten nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober noch am Leben sind.

Die Angehörigen und Freunde der Entführten wiederum wachen jeden Morgen auf und fragen sich: Gibt es heute eine gute Nachricht? Können wir in den nächsten Tagen den Vater, die Mutter, die Tochter, den Sohn wieder in die Arme schließen?

© dpa/Ilia Yefimovich

Nach Monaten verstörenden Taktierens und Feilschens scheint sich jetzt etwas in Sachen Geiseldeal und Feuerpause zu bewegen. Triumphiert die Menschlichkeit über die Unmenschlichkeit des vermeintlich realpolitischen Machtkalküls?

Verantwortlich für das Martyrium der Gekidnappten und deren Familien sind allein die Hamas und deren Helfershelfer. Das darf nach Monaten des Hin und Her nicht auf außer Acht gelassen werden.

Die Islamisten haben am 7. Oktober 2023 nicht nur gemordet, vergewaltigt und gebrandschatzt, sondern auch 250 Menschen entführt – von Anfang an mit der Absicht, sie als Faustpfand zu missbrauchen.

Wohl wissend, dass sich Israel die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger einiges kosten lassen wird. Letztendlich sind die Geiseln nichts anderes als die Lebensversicherung der Hamas-Führungskader. Sie haben zynisch ihr eigenes Schicksal mit dem ihrer Gefangenen verknüpft.

Dabei hätten es die Terroristen in der Hand, die Verschleppten nach Hause gehen zu lassen und so zumindest eine Feuerpause zu ermöglichen, wenn nicht gar eine längere Unterbrechung der Kampfhandlungen. Doch das vom Krieg verursachte Leid, die Not und das Sterben der Menschen in Gaza schert die Islamisten nicht. Sie wollen kämpfen.

Das will auch Benjamin Netanjahu. Der israelische Premier lässt bis heute kein ernsthaftes Interesse daran erkennen, sich für die Freilassung der Geiseln wirklich ins Zeug zu legen. Schon oft haben sich die Angehörigen und mit ihnen Zehntausende Israelinnen und Israelis zu Recht darüber beklagt, den Regierungschef kümmere das Schicksal der Entführten bestenfalls am Rande.

Netanjahu vermittelt den Eindruck, dass er alles dem Krieg gegen die Hamas unterordnet. Sogar wenn das heißt, eigene Bürgerinnen und Bürger zu opfern. Denn dieser Kampf ist nicht zuletzt einer, den er für sich selbst führt. Der Dauer-Ministerpräsident will an der Macht bleiben – und die Schlacht um Gaza soll ihm die Grundlage dafür sichern.

Hinzu kommt: Netanjahus national-religiösen Koalitionspartner – von denen er abhängig ist – lehnen sowohl ein Geiselabkommen als auch Waffenruhe kategorisch ab. So wird der Premier zum Gefangenen seiner Verbündeten.

„Bring them home now“: So lautet der Ruf der Demonstranten in den Straßen von Tel Aviv oder Jerusalem. Es ist überfällig, dass alles getan wird, damit das Wirklichkeit wird. Alles andere wäre eine Tragödie.

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Zynisches Gefeilsche um die Geiseln in Gaza : Wenn Menschen zur Verhandlungsmasse werden

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29.04.2024

© REUTERS/Shannon Stapleton

Den Geiseln kommt im Machtpoker nur noch eine Nebenrolle zu. Die Hamas missbraucht die Verschleppten als Lebensversicherung, Netanjahu sorgt sich um sein politisches Überleben.

Heute, 13:27 Uhr

Es muss die Hölle auf Erden sein. Seit 206 Tagen befinden sich die Geiseln in der Gewalt der Hamas. Das sind an diesem Dienstag mehr als 4940 Stunden Leid und Misshandlung, Angst und Verzweiflung, Unsicherheit und Ungewissheit, Bangen und Hoffen.

Niemand kann auch nur annähernd ermessen, was jene körperlich und seelisch aushalten müssen, die von den Islamisten irgendwo im Gazastreifen unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden. Vermutlich zumeist in Tunnelanlagen, die hermetisch abgeriegelten Gefängnissen gleichkommen.

Vielleicht sind es noch 100 Verschleppte, die nicht wissen, ob sie jemals freikommen. Die vermutlich keine Kenntnis darüber haben, ob ihre Liebsten nach dem........

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