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Die Bilanz der ersten Amtszeit von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionschefin ist gemischt. Falls sie ein zweites Mandat erhält, sollte sie die Gemeinschaft endlich fit machen für neue Mitglieder.

Heute, 12:53 Uhr

Ursula von der Leyen ist vor viereinhalb Jahren eher zufällig ins Amt der EU-Kommissionschefin gekommen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verhinderte, dass der damalige europäische Spitzenkandidat der Konservativen, Manfred Weber, zum Zuge kam. Überraschend wurde stattdessen die frühere Verteidigungsministerin aus Deutschland an die Spitze der Brüsseler Behörde berufen.

Diesmal ist alles anders. Von der Leyen hat viel Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, ob sie sich ein zweites Mandat antun will. Für eine erneute Amtszeit der 65-Jährigen spricht, dass sie inzwischen über genügend Erfahrung verfügt, um sich in dem komplizierten Brüsseler Geflecht zwischen den Egoismen der Mitgliedstaaten und – ja auch – den Egoismen einzelner Brüsseler Kollegen zurechtzufinden.

Viele erinnern sich noch an den lächerlichen Streit um die Sitzordnung beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, den sie mit dem EU-Ratschef Charles Michel austrug. Die Reiberei ging als „Sofagate“ in die EU-Geschichte ein.

Albrecht Meier ist Korrespondent im Hauptstadtbüro. Er sieht Ursula von der Leyen als bewährte Krisenmanagerin, der aber auch Pannen unterlaufen sind.

Charles Michel wird Ende des Jahres sein Brüsseler Amt aufgeben, aber von der Leyen könnte auch demnächst weiterhin ihre Amtsgeschäfte im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes im Europaviertel der belgischen Hauptstadt ausüben. Ihre Chancen für ein zweites Mandat stehen nicht schlecht. Drei Gründe sprechen dafür, dass von der Leyen ihre eigene Nachfolge antritt.

Erstens besagen Prognosen, dass die Europäische Volkspartei (EVP), für die sie nun als europaweite Spitzenkandidatin antreten will, bei der Europawahl zur stärksten Kraft wird. Zweitens ist ihr auch die mehrheitliche Zustimmung der 27 Staats- und Regierungschefs sicher. Zu ihren Fürsprechern zählen unter anderem Macron und Kanzler Olaf Scholz, der sich in Berlin gemeinsam mit den Ampel-Partnern früh für eine zweite Amtszeit der Deutschen ausgesprochen hat. Und drittens ist auch eine Wiederwahl von der Leyens im Europaparlament kein Ding der Unmöglichkeit.

Von der Leyen ist klug genug, um keine große Vision für eine mögliche zweite Amtszeit zu verkünden.

Allerdings ist dieser Punkt beim europäischen Hürdenlauf, der von der Leyen nun bevorsteht, der kniffligste. Angesichts des prognostizierten weiteren Erstarkens von Rechtspopulisten und Rechtsextremen bei der Europawahl wird sie genau schauen müssen, wie sie in der Straßburger Kammer eine Mehrheit bei den Parteien der Mitte zusammenbekommt.

Rund 350 Millionen wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger in den 27 Staaten der Europäischen Union sind vom 6. bis 9. Juni 2024 aufgerufen, die 705 Abgeordneten des zehnten Europäischen Parlaments zu bestimmen.

In Deutschland, wo am Sonntag, dem 9. Juni, gewählt wird, sind rund 66 Millionen Menschen wahlberechtigt. Neu ist nach einer Gesetzesänderung der Ampelkoalition vom Dezember 2022 das Mindestwahlalter von 16 Jahren.

Das politische Versprechen, dass der Spitzenkandidat oder die Spitzenkandidatin der größten Fraktion EU-Kommissionschef wird, wurde 2019 gebrochen. Statt des CSU-Politikers Manfred Weber bekleidet seither Ursula von der Leyen (CDU) das Amt.

Diesmal will von der Leyen zur Europawahl als EVP-Spitzenkandidatin antreten, um sich eine zweite Amtszeit zu sichern. Sie wird in ihrer niedersächsischen Heimat bei der Europawahl allerdings nicht auf dem Wahlzettel stehen, da sie ohnehin kein Mandat für das Europaparlament anstrebt.

Bei ihrer letzten Wahl im Jahr 2019 waren ihr die Grünen noch gewogen. Wird das so bleiben angesichts der Rolle rückwärts, zu der sie die Union die Kandidatin gezwungen hat? CDU und CSU erwarten von einer zweiten Amtszeit von der Leyens weniger Regulierung, weniger Umweltauflagen für die Landwirte und mehr Wettbewerbspolitik.

Von der Leyen ist klug genug, um keine große Vision für eine mögliche zweite Amtszeit zu verkünden. Denn ihr holpriger Start ins Amt vor viereinhalb Jahren hat sie gelehrt, wie schnell am Reißbrett entworfene Pläne zur Zukunft der Europäischen Union Makulatur werden können.

Kaum war sie im Amt, begann die Corona-Pandemie. Unterm Strich ist es auch ihr Verdienst, dass alle Europäer von Deutschland bis Bulgarien gleichermaßen mit Impfstoff versorgt werden konnten. Aber andere – die USA und die Brexit-Briten – waren bei der Impfstoffbeschaffung seinerzeit schneller als die schwerfälligen Europäer. Pannen bei der Beschaffung, die auch auf das Konto von der Leyens gehen, wurden nicht aufgearbeitet.

Ähnlich gemischt ist die bisherige Bilanz von der Leyens auch beim zweiten großen Thema, das sie als Kommissionschefin mehr oder weniger unvorbereitet traf: Putins Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Einerseits ist es ihr hoch anzurechnen, dass die 27 EU-Staaten – teils gegen den heftigen Widerstand des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán – ein Sanktionspaket nach dem anderen gegen Russland schnürten. Zudem war es klug von ihr, der Ukraine schnell eine Beitrittsperspektive zu eröffnen.

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Andererseits hat sie den Anspruch, eine wahrhaft „geopolitische Kommission“ führen zu wollen, nie wirklich eingelöst. Die Brüsseler EU-Institutionen sind auch in der zurückliegenden Legislaturperiode im Wesentlichen das geblieben, was sie schon immer waren: Ein wichtiger Geldgeber rund um den Globus, aber kein außenpolitischer Machtfaktor, vor dem sich Tyrannen wie Putin fürchten müssten.

Gerade hat die Debatte um den Aufbau eigenständiger Atomwaffenfähigkeiten der EU gezeigt, dass die Sicherheit der Europäer bis auf Weiteres am nuklearen Schutzschirm der USA hängt und nicht an Frankreichs „Force de Frappe“. In einer zweiten Amtszeit von der Leyens sollte es daher eher sinnvollerweise darum gehen, wie der europäische Pfeiler in der Nato gestärkt werden kann.

Wenn es aber einen festen Arbeitsauftrag für „von der Leyen II“ gibt, dann wäre es folgender: Ihr müsste es in der nächsten europäischen Legislaturperiode gelingen, die EU endlich fit zu machen für die Aufnahme neuer Mitglieder wie der Ukraine oder der Staaten des westlichen Balkans.

Der wichtigste Punkt liegt dabei in der Abschaffung der Vetos etwa bei außenpolitischen Sanktionen, welche die Russland-Politik der Gemeinschaft in den zurückliegenden zwei Jahren öfter blockiert hat. Nur wenn es von der Leyen gelänge, die notwendige innere Reform der Gemeinschaft anzupacken, wäre eine Erweiterung auf mehr als 30 Staaten überhaupt denkbar.

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Zweite Amtszeit als Kommissionschefin? : Von der Leyen hat keine große Vision – und das ist gut so

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19.02.2024

© AFP/Frederick Florin

Die Bilanz der ersten Amtszeit von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionschefin ist gemischt. Falls sie ein zweites Mandat erhält, sollte sie die Gemeinschaft endlich fit machen für neue Mitglieder.

Heute, 12:53 Uhr

Ursula von der Leyen ist vor viereinhalb Jahren eher zufällig ins Amt der EU-Kommissionschefin gekommen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verhinderte, dass der damalige europäische Spitzenkandidat der Konservativen, Manfred Weber, zum Zuge kam. Überraschend wurde stattdessen die frühere Verteidigungsministerin aus Deutschland an die Spitze der Brüsseler Behörde berufen.

Diesmal ist alles anders. Von der Leyen hat viel Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, ob sie sich ein zweites Mandat antun will. Für eine erneute Amtszeit der 65-Jährigen spricht, dass sie inzwischen über genügend Erfahrung verfügt, um sich in dem komplizierten Brüsseler Geflecht zwischen den Egoismen der Mitgliedstaaten und – ja auch – den Egoismen einzelner Brüsseler Kollegen zurechtzufinden.

Viele erinnern sich noch an den lächerlichen Streit um die Sitzordnung beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, den sie mit dem EU-Ratschef Charles Michel austrug. Die Reiberei ging als „Sofagate“ in die EU-Geschichte ein.

Albrecht Meier ist Korrespondent im Hauptstadtbüro. Er sieht Ursula von der Leyen als bewährte Krisenmanagerin, der aber auch Pannen unterlaufen sind.

Charles Michel wird Ende des Jahres sein Brüsseler Amt aufgeben, aber von der Leyen könnte auch demnächst weiterhin ihre Amtsgeschäfte im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes im Europaviertel der belgischen Hauptstadt ausüben. Ihre Chancen für ein zweites Mandat........

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