Anfang der 1970er in Neuengland. Über Weihnachten reisen die Schüler und Lehrer eines kleinen Jungeninternats zu ihren Familien nach Hause. Nur Problemschüler Angus (Dominic Sessa) bleibt zurück und der ebenso unbeliebte wie grummelige Geschichtslehrer Paul Hunham (Paul Giamatti) soll dessen Aufsicht übernehmen. Der Widerwille ist durchaus gegenseitig. Auch Köchin Mary (Da’Vine Joy Randolph), deren Sohn kurz zuvor in Vietnam gefallen ist, entscheidet, die trostlosen Tage in der Schule auszuharren, um sich so dem Familienglück ihrer Schwester zu entziehen. Allen Ressentiments zum Trotz schweißt die Zeit das ungleiche Trio mit all seinen Neurosen und Schwächen doch noch zusammen.

Dem amerikanischen Regisseur Alexander Payne (Sideways) gelingt einmal mehr, mit geschliffenen Dialogen und tollem Zeitkolorit, eine lakonisch-kluge Komödie über Zwischenmenschliches. Das Gespräch mit dem 62-Jährigen in München vergangenen Donnerstag musste kurzfristig durch die geschlossene Tür geführt werden. Payne lag schwer erkältet im Bett seiner Hotelsuite, gab aber tapfer Auskunft, nur hin und wieder unterbrochen von Hustenanfällen, über das Drehen als Zeitreise, bittersüße Freuden und seine Verbundenheit zu Europa.

der Freitag: Herr Payne, in Ihrem Film „The Holdovers“ hat der unbeliebte Geschichtslehrer Paul Hunham einen Karton voll mit Ausgaben von Marcus Aurelius’ „Selbstbetrachtungen“, die er bei jeder Gelegenheit ungefragt als Geschenk überreicht, ob das Gegenüber etwas damit anfangen kann – oder nicht. Was können uns Ihrer Meinung nach die Stoiker heute noch sagen?

Alexander Payne: Oh, eine ganze Menge. Ich stimme mit Paul überein, wenn er sagt, Selbstbetrachtungen ist eine Bibel. Man schlägt es auf einer beliebigen Seite auf und findet etwas Brauchbares. Legen Sie es auf Ihren Nachttisch. Und lesen Sie abends fünf Minuten vor dem Schlafen darin. Es ist ein bemerkenswertes Buch. Es bietet so viel Rat für ein gutes Leben, über Gelassenheit und Harmonie. Mir gibt es immer wieder Impulse, über das Dasein nachzudenken.

Ihre bisherigen Filme haben Sie meist mit Ihrem Co-Autor Jim Taylor geschrieben. Diesmal war es anders: Sie fragten David Hemingson, ob er ein Drehbuch schreiben könne, das in einem Elite-Internat spielt. Was hat Sie daran interessiert?

Ich hatte auf einem Festival vor etlichen Jahren den französischen Film Merlusse von Marcel Pagnol aus dem Jahr 1935 gesehen, der auch an einem Internat spielt. Ich kann mich nur noch an die Grundprämisse erinnern: Der unbeliebte Lehrer soll auf ein paar Schüler aufpassen, die über die Weihnachtsfeiertage nicht zu ihren Familien können. Ich dachte, das ist eine gute Idee für einen Film, den ich selbst gerne sehen würde. Und ich überlegte, wie man das in einem zeitgenössischen amerikanischen Film verarbeiten könnte. Aber ich kam nicht recht weiter. Dann stieß ich auf David Hemingson, der ein Serienkonzept über ein Internat geschrieben hatte. Und ich fragte ihn, ob er sich vorstellen könnte, aus meinen Ideen ein Drehbuch zu entwickeln.

Wie haben Sie dabei zusammengearbeitet?

Er kommt aus der Serienbranche, wo er von Comedy über Drama bis Action so ziemlich alles gemacht hat. So kann er sich sehr gut an jeden gewünschten Stil anpassen. Er bereitete sich akribisch vor, sah sich meine Filme an und auch andere, die ich ihm als Referenz gab. Er war sehr darauf bedacht, etwas zu schreiben, das sich in mein Werk einfügt.

Sie erzählen eine recht klassische Geschichte. Wie schwierig ist es, Klischees zu vermeiden und die Balance zu finden zwischen Komödie und Drama?

Das ist eine Frage, die ich mir bei jedem Film stelle. Für mich sind es alle Komödien, aber vielleicht sind es doch eher humorvolle Dramen? Ich kann nicht erklären, warum ich mich zu einem bestimmten Tonfall hingezogen fühle. Es passiert einfach. Vielleicht ist es meine griechische Seele. Im Griechischen gibt es den Begriff Χαρμολύπη, Charmolypi, der so etwas wie bittersüß bedeutet, eine mit Freude verbundene Traurigkeit. Das trifft es ganz gut.

Eingebetteter Medieninhalt

„The Holdovers“ ist Ihr erster Film, der nicht in der Gegenwart spielt. Warum haben Sie dafür die Siebzigerjahre als Ära gesetzt?

Hauptsächlich, weil es heutzutage keine reinen Jungsinternate mehr gibt. Aber ich wollte keinen typischen Historienfilm drehen, es sollte sich kontemporär anfühlen, als hätten wir ihn damals gedreht. Mental habe ich jeden Tag eine Zeitreise angetreten und einfach so getan, als würde ich einen Low-Budget-Film Anfang der Siebziger drehen. Nach diesem Gedankenexperiment richteten sich der Kameramann, der Produktionsdesigner und die Kostümbildnerin: Wie würde es aussehen, wenn wir damals gearbeitet hätten?

Aber gedreht haben Sie dann doch digital und nicht analog. Warum?

Weil das Filmmaterial heutzutage nicht körnig genug ist, es sieht einfach zu glatt und schön aus. Wir hätten sehr viel nachbearbeiten müssen, um es wie einen alten Film erscheinen zu lassen. Letztlich war das auch eine Frage des Budgets, es war einfach günstiger, digital zu drehen. Und ganz ehrlich, ich bin da kein Dogmatiker wie Christopher Nolan oder Quentin Tarantino, die nur analog arbeiten. Oder auf der anderen Seite Leute wie David Fincher und Steven Soderbergh, für die digital das einzig Wahre ist. Ich gehöre zu keiner der beiden Fraktionen. Egal, womit ich drehe, mein Job als Regisseur bleibt derselbe.

Sie drehen grundsätzlich nicht in Kulissen oder im Studio, sondern immer an realen Orten. Die Schule wird so fast zu einem weiteren Charakter. Ist diese Entscheidung vor allem für den Film selbst wichtig oder auch für den Prozess der Dreharbeiten?

Für alles! Ich will, dass meine Geschichten in der Realität spielen, nicht in einer künstlichen Filmwelt. Und an echten Orten zu drehen, hilft auch den Schauspielern, sich besser in ihre Figuren hineinzuversetzen.

Die Hauptfigur haben Sie für Paul Giamatti geschrieben. Es ist Ihr erster gemeinsamer Film fast 20 Jahre nach „Sideways“. Wie hat sich Ihre Zusammenarbeit verändert?

Kein bisschen. Wir haben unmittelbar da weitergemacht, wo wir damals aufgehört haben. Wir sind befreundet, haben uns nie aus den Augen verloren. Wir verstehen uns ohne viele Worte. Ich lasse ihm die Freiheit, die Rolle zu füllen, vertraue ihm völlig. Und Paul stammt aus dieser Welt, ging selbst auf so ein Elite-Internat in Yale. Er wusste, wie diese Lehrer dort ticken. Wenn man jemanden wie Meryl Streep oder Paul Giamatti hat, muss man sich wirklich keine Sorgen machen, was sie aus ihrer Figur machen.

Können Sie sich mit dieser Figur identifizieren? Vielleicht nicht in seinem Verhalten, aber seiner Lebensphilosophie?

Ich kann mir durchaus vorwerfen, dass ich gewissen Traditionen verhaftet bin.

Gibt es ein Buch, das Sie wie Paul im Film öfters verschenken?

Wie Paul habe auch ich die Selbstbetrachtungen im Laufe meines Lebens schon oft verschenkt. Vor einigen Jahren habe ich sechs oder acht Mal John Williams’ Stoner verschenkt. Ein deprimierender, aber wundervoller Roman. Aber das Buch, das ich vermutlich am häufigsten Freunden zu lesen gegeben habe, ist Rebecca Wests Schwarzes Lamm und grauer Falke. Eine Reise durch Jugoslawien von 1941, ein großartiges Buch über diesen komplexen, widersprüchlichen und oft unergründlichen Teil der Welt. Kann ich gar nicht genug empfehlen.

Vor 20 Jahren, als „Sideways“ ins Kino kam, haben Sie eine „Unabhängigkeitserklärung“ veröffentlicht, in der sie Independentfilme nicht ökonomisch definierten, sondern aus der Position des Filmemachers. Inwiefern hat sich die Situation nun verändert?

Ich glaube, im Grunde gar nicht. Vielleicht irre ich mich, wie der Frosch im Wasser, das ganz langsam erhitzt wird, und nehme den Wandel nicht wahr. Aber ich habe meinen Modus Operandi nie verändert. Ich kann noch immer alle paar Jahre einen meiner kleinen Filme machen, die dann zum Glück bis zu einem gewissen Grad auch wahrgenommen werden. Und ja, ich bin mit Downsizing auch grandios gescheitert, aber einen Flop hat jeder mal.

Sie sind Amerikaner mit griechischen Wurzeln. Wie nah fühlen Sie sich Europa und dem europäischen Kino?

Sehr. Letztes Jahr habe ich meine griechische Staatsbürgerschaft bekommen, ich bin jetzt ganz offiziell Europäer. Ich würde gerne in Europa Filme drehen, in verschiedenen Sprachen, auch wenn ich sie nicht selbst spreche. Ich arbeite gerade an einem französischen Drehbuch, das in Paris spielt. Und ich flirte mit einem Projekt in Dänemark. Auch in Griechenland würde ich gerne drehen, aber noch habe ich keine passende Geschichte.

Alexander Payne wurde 1961 in Nebraska geboren und machte sich in den 90ern mit Satiren zur US-Politik wie Citizen Ruth und Election einen Namen, bevor er 2004 mit Sideways zu Oscar-Ehren kam. Es folgten The Descendants (2011), Nebraska (2013) und Downsizing (2017)

QOSHE - Interview | „The Holodovers“-Regisseur Alexander Payne: „Wir taten so, als drehten wir in den 70ern“ - Thomas Abeltshauser
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Interview | „The Holodovers“-Regisseur Alexander Payne: „Wir taten so, als drehten wir in den 70ern“

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24.01.2024

Anfang der 1970er in Neuengland. Über Weihnachten reisen die Schüler und Lehrer eines kleinen Jungeninternats zu ihren Familien nach Hause. Nur Problemschüler Angus (Dominic Sessa) bleibt zurück und der ebenso unbeliebte wie grummelige Geschichtslehrer Paul Hunham (Paul Giamatti) soll dessen Aufsicht übernehmen. Der Widerwille ist durchaus gegenseitig. Auch Köchin Mary (Da’Vine Joy Randolph), deren Sohn kurz zuvor in Vietnam gefallen ist, entscheidet, die trostlosen Tage in der Schule auszuharren, um sich so dem Familienglück ihrer Schwester zu entziehen. Allen Ressentiments zum Trotz schweißt die Zeit das ungleiche Trio mit all seinen Neurosen und Schwächen doch noch zusammen.

Dem amerikanischen Regisseur Alexander Payne (Sideways) gelingt einmal mehr, mit geschliffenen Dialogen und tollem Zeitkolorit, eine lakonisch-kluge Komödie über Zwischenmenschliches. Das Gespräch mit dem 62-Jährigen in München vergangenen Donnerstag musste kurzfristig durch die geschlossene Tür geführt werden. Payne lag schwer erkältet im Bett seiner Hotelsuite, gab aber tapfer Auskunft, nur hin und wieder unterbrochen von Hustenanfällen, über das Drehen als Zeitreise, bittersüße Freuden und seine Verbundenheit zu Europa.

der Freitag: Herr Payne, in Ihrem Film „The Holdovers“ hat der unbeliebte Geschichtslehrer Paul Hunham einen Karton voll mit Ausgaben von Marcus Aurelius’ „Selbstbetrachtungen“, die er bei jeder Gelegenheit ungefragt als Geschenk überreicht, ob das Gegenüber etwas damit anfangen kann – oder nicht. Was können uns Ihrer Meinung nach die Stoiker heute noch sagen?

Alexander Payne: Oh, eine ganze Menge. Ich stimme mit Paul überein, wenn er sagt, Selbstbetrachtungen ist eine Bibel. Man schlägt es auf einer beliebigen Seite auf und findet etwas Brauchbares. Legen Sie es auf Ihren Nachttisch. Und lesen Sie abends fünf Minuten vor dem Schlafen darin. Es ist ein bemerkenswertes Buch. Es bietet so viel Rat für ein gutes Leben, über Gelassenheit und Harmonie. Mir gibt es immer wieder Impulse, über das Dasein nachzudenken.

Ihre bisherigen Filme haben Sie meist mit Ihrem Co-Autor Jim Taylor geschrieben. Diesmal war es anders: Sie fragten David Hemingson, ob er ein Drehbuch........

© der Freitag


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