Im April eröffnet die 60. Kunstbiennale in Venedig. Vor einem Jahr wurde Çağla Ilk als Kuratorin des deutschen Beitrags ernannt. Die Videokünstlerin Yael Bartana und der Theaterregisseur Ersan Mondtag werden den Deutschen Pavillon gestalten. Zudem wird von Michael Akstaller, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Jan St. Werner erstmals die Insel La Certosa bespielt. Der gemeinsame Titel Thresholds steht dabei für die Gegenwart als Schwelle – ein Ort, an dem niemand bleiben kann und den es nur gibt, weil etwas war und wenn etwas sein wird.

der Freitag: Frau Ilk, Yael Bartana ist die erste in Israel geborene Künstlerin, die im Deutschen Pavillon ausstellt. Ersan Mondtag ist Enkel türkischer Gastarbeiter, geboren 1987, aufgewachsen in West-Berlin. Welche Rolle haben biografische Aspekte für Ihre Auswahl gespielt?

Çağla Ilk: Im Vordergrund steht die künstlerische Praxis. Ich arbeite mit diesen Künstlerinnen und Künstlern seit vielen Jahren zusammen und wir versuchen schon lange, neue Formen von Erzählungen zu finden. Manche denken, dass Yael Bartana eine kurzfristige Entscheidung angesichts des 7. Oktobers 2023 gewesen sei. Aber dem ist nicht so. Für mich war es von Beginn an eine politische Mission. Wir kommen aus den Konfliktzonen. Wir haben Missionen und politische Haltungen. Ich selbst habe Migrationshintergrund und lebe seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. Wie wollen wir die künftige Gesellschaft aus künstlerischer und ästhetischer Perspektive gestalten? Antworten auf diese Frage zu finden, das ist meine Aufgabe.

Hatten Sie selbst ein prägendes Erlebnis mit Kunst, die diese Frage beantwortet hat?

Meine erste Begegnung mit moderner Kunst war 1995 auf der Istanbul Biennale, kuratiert von René Block. Da war eine Installation von Hale Tenger ausgestellt. Ich erinnere mich noch genau an das kleine graue Wachhäuschen. Darin standen ein Radio und eine Teetasse, so als sei der Wachposten gerade noch da gewesen. Die Abwesenheit dieses Menschen war stark zu spüren. Rundherum war ein Drahtzaun. Das berührt mich jetzt, wo ich Ihnen davon erzähle, noch immer sehr. Ich wollte nach diesem Erlebnis sofort aufbrechen. Es war so klar, dass wir in der Türkei eingeschlossen waren. Ich denke, es war dem Leben in der DDR vergleichbar. Heute teile ich mit meinen ostdeutschen Kollegen den gleichen Humor.

Was hat Sie nach Berlin gebracht?

Berlin war der Ort, wo in den 90er-Jahren alle Architektur-Studierenden hin wollten. Wir waren fasziniert davon, dass in Deutschland eine neue Metropole entsteht. Am 29. Februar 2004 kam ich in Berlin an und bin geblieben. Wir hatten kein Geld, haben von billigem Toastbrot gelebt. An der Uni habe ich zunächst keinen Platz bekommen und habe mich dann eingeklagt.

Wie lange hat es gedauert, in Deutschland anzukommen?

Das dauert noch immer.

Inzwischen haben Sie die deutsche Staatsbürgerschaft und kuratieren 20 Jahre nach Ihrer Ankunft in Berlin den Deutschen Pavillon. Was bedeutet Ihnen die Ernennung?

Ich sehe das als Wertschätzung meiner Arbeit, insbesondere in den letzten Jahren an der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden. In der Doppelspitze mit Misal Adnan Yıldız machen wir dort ein sehr ambitioniertes Programm. Für Venedig habe ich unter anderem Ludwig Haugk als Dramaturgen eingeladen. Ich brauche immer ein Wir.

Sie haben zuvor am Maxim-Gorki-Theater gearbeitet und dort das Format „Berliner Herbstsalon“ mitkuratiert. Wo sehen Sie die größten Unterschiede zwischen der Theater- und der Kunstwelt?

Museen geht es um die Kategorisierung und das Schützen von Schätzen. Sie sind schwerer mit dem Zeitgeist zu prägen. Theaterhäuser verbindet man stärker mit ästhetischen und inhaltlichen Vorstellungen. Dass wir im Theater als Zuschauer einen Moment gemeinsam betrachten, ist magisch. Ich will, dass dieses gemeinsame Erleben auch im Kunstkontext möglich wird. Die Kunstwelt ist wiederum viel internationaler und globaler. Wenn wir im Museum of Modern Art in New York und im Hamburger Bahnhof in Berlin dasselbe Bild sehen, sind wir visuell vernetzt. Theaterleute sind viel weniger vernetzt, auch aufgrund der Sprache. Auch deshalb wollte ich raus aus diesem Feld.

Warum sollten Menschen nach Venedig fliegen?

Mich fasziniert, dass es die Biennale schon 120 Jahre gibt. Auf dieser kleinen Insel Venedig zu sein und dort die Kunst aus so vielen Ländern zu haben, ist Wahnsinn. Ich habe 1995 ein Kunstwerk gesehen, das mein Leben verändert hat. Diese Erfahrung möchte ich anderen Menschen nun als Kuratorin möglich machen. Man muss übrigens nicht fliegen, auch die Zugfahrt nach Venedig ist sehr schön.

In der Vergangenheit haben sich viele an der Geschichte des Deutschen Pavillons abgearbeitet: Von Hitler umgebaut, steht das Gebäude in Italien unter Denkmalschutz. Wie nehmen Sie als Architektin es wahr?

Wir können die Geschichte des Pavillons nicht ignorieren. Das Gebäude lebt auch ohne die Kunst ein eigenes Leben. Es ist alt. Es hört zu. Wir haben ein Modell des Pavillons gebaut. Das ermöglicht uns, den Pavillon von oben zu öffnen und eine Perspektive der Macht einzunehmen. Wenn wir die architektonischen Elemente hin und her schieben, spüren wir, dass wir mächtiger als die Architektur sind. Der Pavillon ist nun nicht mehr Territorium, sondern eine Bühne, die unsere Idee spiegeln und diese ermöglichen soll.

Erstmals wird neben dem Deutschen Pavillon in den Giardini auch eine Insel bespielt. Wäre es eine Option gewesen, nur auf die Insel zu gehen?

Ja, wir Kuratoren haben Carte blanche. Ich habe schon 2019 sehr konkret davon geträumt, den Deutschen Pavillon einmal zu kuratieren. Ich habe im Traum Wesen gesehen, die durch die Giardini tanzen. Dann war ich 2020 bei Antikrist von Ersan Mondtag an der Deutschen Oper und erinnerte mich während der Aufführung an dieses Gefühl. Durch Ersans ästhetische Darstellung und die Kostüme entstand ein unglaubliches, ein bewegliches Bild. Das ist seine Stärke, die wir nun in die Kunstwelt bringen. Meinem Traum folgend wollte ich zunächst das Dach des Pavillons bespielen, aber das war aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Also war es konsequent, auf andere Art über die Pavillongrenzen hinaus zu denken und die Insel zu bespielen. Sie ist erst seit wenigen Jahren mit dem Boot öffentlich zugänglich, war früher Lager fürs Militär. 1916 haben sie dort kleine Munitionshäuschen gebaut. Es ist mir extrem wichtig, dass wir dieses andere Konzept des Pavillons ausstellen – eines, das dessen nationalstaatliche Idee überwindet und Räume anders definiert.

Wie stark sind Sie in die Entwicklung der einzelnen Werke involviert?

Wir sind täglich im Austausch. Es ist mein Beruf, mitzudenken. Manchmal kann das vielleicht obsessiv und nervig sein. Aber ich brenne dafür. Ich habe Drehbücher im Kopf. Ich habe die Künstlerinnen und Künstler eingeladen, die Wege des Denkens mit mir zu gehen. Ich habe allen den Roman Zeitzuflucht von Georgi Gospodinov gegeben. Er hat mich für das Konzept des Pavillons sehr geprägt.

Inwiefern?

Im Roman wird eine Klinik für Menschen mit Gedächtnisverlust beschrieben. Sie erinnern sich nur an Momente, in denen sie sich sehr wohlgefühlt haben. Was passiert aber, wenn wir uns freiwillig für diese rückwärtsgewandten Räume entscheiden? Wir verlieren alles! Die Vergangenheit, weil wir sie zur Gegenwart machen. Die Gegenwart, weil wir versuchen, sie hinter uns zu lassen. Und die Zukunft, weil sie in diesen Konzepten nicht mehr vorkommt. Gospodinov schreibt: „Eigentlich ist das Erste, was beim Verlust des Gedächtnisses fortgeht, die Vorstellung von Zukunft.“ Das bewegt mich.

Wird auch der Roman Teil des Deutschen Pavillons?

Ja, Gospodinovs Denken wird dem Publikum in Venedig als Teil der Ausstellung begegnen. Ebenso das des Autors und Wissenschaftlers Louis Chude-Sokei, das anhand von afro-futuristischen Elementen Bezüge zwischen Technologie und Race herstellt. Sein Verständnis von Klang und Migration ist vom Schwellenbegriff geprägt und deshalb für den deutschen Beitrag zentral. Auch die Kunsthistorikerin und Kuratorin Doreet LeVitte Harten, die Yael Bartana sehr stark beeinflusst und 2009 den israelischen Pavillon in Venedig kuratiert hat, wird mit ihrem Zusammendenken von Science Fiction und Philosophie Teil der Gesamterzählung sein. Ich nenne die drei Chronisten. Wichtig ist mir dabei der Ensemble-Gedanke: Alle stehen zugleich auf der Bühne und alle Szenarien finden gleichzeitig statt. Es gibt keinen 1., 2. oder 3. Akt wie im Theater.

Çağla Ilk wurde 1977 in Istanbul geboren und studierte dort und in Berlin Architektur. Von 2012 bis 2020 war sie Dramaturgin und Kuratorin am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Seit 2020 leitet sie mit Misal Adnan Yıldız die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden

QOSHE - Interview | Kuratorin Çağla Ilk: „Ich brauche immer ein Wir“ - Sarah Alberti
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Interview | Kuratorin Çağla Ilk: „Ich brauche immer ein Wir“

13 0
10.03.2024

Im April eröffnet die 60. Kunstbiennale in Venedig. Vor einem Jahr wurde Çağla Ilk als Kuratorin des deutschen Beitrags ernannt. Die Videokünstlerin Yael Bartana und der Theaterregisseur Ersan Mondtag werden den Deutschen Pavillon gestalten. Zudem wird von Michael Akstaller, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Jan St. Werner erstmals die Insel La Certosa bespielt. Der gemeinsame Titel Thresholds steht dabei für die Gegenwart als Schwelle – ein Ort, an dem niemand bleiben kann und den es nur gibt, weil etwas war und wenn etwas sein wird.

der Freitag: Frau Ilk, Yael Bartana ist die erste in Israel geborene Künstlerin, die im Deutschen Pavillon ausstellt. Ersan Mondtag ist Enkel türkischer Gastarbeiter, geboren 1987, aufgewachsen in West-Berlin. Welche Rolle haben biografische Aspekte für Ihre Auswahl gespielt?

Çağla Ilk: Im Vordergrund steht die künstlerische Praxis. Ich arbeite mit diesen Künstlerinnen und Künstlern seit vielen Jahren zusammen und wir versuchen schon lange, neue Formen von Erzählungen zu finden. Manche denken, dass Yael Bartana eine kurzfristige Entscheidung angesichts des 7. Oktobers 2023 gewesen sei. Aber dem ist nicht so. Für mich war es von Beginn an eine politische Mission. Wir kommen aus den Konfliktzonen. Wir haben Missionen und politische Haltungen. Ich selbst habe Migrationshintergrund und lebe seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. Wie wollen wir die künftige Gesellschaft aus künstlerischer und ästhetischer Perspektive gestalten? Antworten auf diese Frage zu finden, das ist meine Aufgabe.

Hatten Sie selbst ein prägendes Erlebnis mit Kunst, die diese Frage beantwortet hat?

Meine erste Begegnung mit moderner Kunst war 1995 auf der Istanbul Biennale, kuratiert von René Block. Da war eine Installation von Hale Tenger ausgestellt. Ich erinnere mich noch genau an das kleine graue Wachhäuschen. Darin standen ein Radio und eine Teetasse, so als sei der Wachposten gerade noch da gewesen. Die Abwesenheit dieses Menschen war stark zu spüren. Rundherum war ein Drahtzaun. Das berührt mich jetzt, wo ich Ihnen davon erzähle, noch immer sehr. Ich wollte nach diesem Erlebnis sofort aufbrechen. Es war so klar, dass wir in der........

© der Freitag


Get it on Google Play