Mein wohl schönstes Weihnachtserlebnis liegt viele Jahre zurück, als in einem Saal mehr als anderthalbtausend Obdachlose hackevoll gesungen haben, dass sie nicht nach Hause gehen.

In Berlin war das, im Neuköllner Hotel Estrel, Ende der Neunziger. Frank Zander stand auf der Bühne, um – wie jedes Jahr bei seiner Weihnachtsfeier für Unbehauste – vier oder fünf Lieder zu singen. Nur, dass er diesmal nicht nur die alten Hits sang, von wegen Ich trink auf dein Wohl, Marie (Ich liebe diesen Song!) oder Marlene. Als Zugabe hatte er seine damals neue offizielle Hertha-BSC-Hymne im Programm: Nur nach Hause gehen wir nicht.

Wir haben später darüber geredet. Als früherer Schlussredakteur des Strassenfeger habe ich es mit ihm auf mindestens drei Interviews gebracht. „Hast du das gesehen?“, habe ich ihn gefragt. – „Ja, klar. War nicht zu übersehen …“ Ich hätte heulen können, so schön war das. Andere haben geheult. So viele Unbedachte lagen einander in den Armen, betrunken und glückselig, sangen nach der Melodie der bekannten Sailing-Schnulze von Rod Stewart: „Nur nach Hause, /Nur nach Hause, /Nur nach Hause gehn wir nicht!“

In den Medien war jetzt zu erfahren, dass Frank Zander in die Charité eingeliefert worden war. Nach einer Corona-Infektion sei er einfach nicht mehr auf die Beine gekommen. Inzwischen ist der 81-Jährige wieder daheim. Es gehe ihm besser, aber er sei nicht gesund, heißt es, und dass am Freitag auf jeden Fall zum 29. Mal die Weihnachtsfeier für Obdachlose stattfinden werde. Und bestimmt auch mit Frank Zander. Hoffen wir das Beste.

Dazu muss man wissen, die Frank-Zander-Weihnachtsfeier ist bis heute die einzige in Berlin, wo die armen Schlucker zum Fest nicht nur Braten und Geschenke bekommen, sondern auch ein Bierchen. Oder zwei oder drei, da fragt keiner. Allein die Getränkerechnung der Weihnachtsfeier war seinerzeit fünfstellig …

Das Vorprogramm hatten die Gebrüder Blattschuss übernommen (Kreuzberger Nächte sind lang!). Nachdem nun die Stimmung im Saal proportional zum Alkoholpegel angestiegen war und alle, wirklich alle satt und viele eben besoffen, kam the Master himself on stage! Vorher aber kündigte ihn kündigte seien Band an, mit dem AC/DC-Gitarrenintro aus Thunderstruck an, wobei der Chorus in neuer Interpretation dauernd „Zan-der!“ rief. Immer wieder: „Zan-der!“ Die Leute im Saal hatten schnell kapiert und stimmten mit ein: „Zan-der!“ Endlich betrat der Gerufene die Bühne, bekleidet mit einem langen schwarzen Ledermantel, einem Hut mit breiter Krempe und ganz Bohemien den weißen Schal um den Hals geschwungen. Nicht zu vergessen die Pilotensonnenbrille. Die Menge tobte. Hier kommt Kurt/ ohne Helm und ohne Gurt. Und ganz ehrlich, ich bin meinen Lebtag auf keiner besseren Party gewesen. Da hat einfach alles gestimmt: Essen, Trinken, Freunde. Interessanterweise bekommt Frank Zander nie Blumen auf die Bühne gebracht, sondern Schnapsflaschen. Die Obdachlosen himmeln ihn an!

Dass irgendwelche Stars und Sternchen in der Weihnachtszeit Charity Events für Bedürftige spendieren, gibt’s überall – in Amerika, in München und bestimmt auch in Hamburg und Wien. In Berlin aber ist alles anders. Angefangen hat es damit, dass Ende 1994 irgendwelche PR-Fuzzies aus Zanders Plattenfirma die Idee hatten, für Berliner Obdachlose ein kleines Fest zu organisieren, damals noch für 250 Leute. Das Echo war gemischt. Die Chefredakteurin der Motz übte Kritik, sah die Ärmsten der Armen für ein PR-Spektakel benutzt, was Unsinn war.

Bei der Bild-Zeitung heißt es bis heute: „Mit Kindern und mit Tieren kannst du nicht verlieren!“ Weihnachten mit irgendwelchen Suffkes interessiert jetzt nicht so das Massenpublikum. Das musste auch Frank Zander lernen, der die Trebegänger beschenkte und gut zu bewirten wusste, ja sogar noch ein Liedchen vom neuen Album darbot – der Sänger sollte nicht eine CD mehr verkaufen. Und noch schlimmer: Seither ist Zander aus der Weihnachtsnummer nicht mehr rausgekommen.

In jenem Jahr stand er bei der Saalöffnung am Eingang und empfing jeden Obdachlosen einzeln per Handschlag und manchen auch mit Umarmung. Damals waren das anderthalbtausend Handshakes in einer Stunde! Dabei hatte es auch einen zweiten Eingang gegeben, durch den jeder und jede hätte sofort durchgehen können. Seine Gäste aber haben diszipliniert in einer Reihe gestanden, um von „Frankie“ persönlich begrüßt zu werden. Gibt es hierzulande irgendeinen Künstler, der an Weihnachten Ähnliches tut? Der die Unbehausten beschenkt, bewirtet, sich von ihnen umarmen lässt – und dann noch ein Konzert gibt! Auch wenn es nur vier Lieder sind, plus Zugabe. Und die Zugabe war eben die Hertha-Hymne …

Ich bin jetzt kein Hertha-BSC-Berlin-Fan. Und wie alles an diesem Klub ist auch die Hymne provinziell: ein kitschiges Rod-Stewart-Cover. Bitte! Und dann auch noch Sailing! Im Estrel aber, als sich die Obdachlosen besoffen in den Armen lagen und sangen Nur nach Hause gehen wir nicht, war das ein Erlebnis! Der Geist der Weihnacht, an diesem Abend war er da! Wenn Menschen, die kaputter nicht sein können, einander aushalten und jeder jedem alles vergibt. Wie war das noch? Josef und Maria fanden keine Herberge, mussten ‚Platte machen‘ in einem Stall. Die beiden hätten genauso singen können: Nur nach Hause gehn wir nicht! Wobei die Strophen vielleicht nicht ganz zum Lukas-Evangelium gepasst hätten. Der Text, den Zander auf I Am Sailing geschrieben hat, ist recht simpel gestrickt:

Ich sitze da, am runden Tresen und der Wirt zapft noch ein Bier
Hier treff ich die alten Freunde und dann diskutieren wir
Über all die krummen Dinge, die passiert sind, irgendwo
Sowieso, woho, woho
Und sowieso, woho, woho

Und dann der besagte Refrain:

Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause gehn wir nicht
Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause gehn wir nicht

Offenbar muss irgendwas an und in dieser Melodie sein, was die Leute derart berührt. Das meinte auch Frank Zander damals. In seinem Studio habe ich ihn danach besucht, in der Witzlebenstraße, nahe dem Funkturm. Mexikanisches Bier haben wir getrunken. Und ich weiß noch, dass er versucht hatte, Udo Lindenberg an Bord zu holen. Zander und Lindenberg sind irgendwie verwandte Seelen, auch wenn Lindenberg mehr Rock’n Roll ist. „Udo“ jedenfalls sollte sich beteiligen. Man könnte doch gemeinsam die Kosten für Party stemmen, sagte Zander. Und vom Programm her hätte die Verstärkung auch gut gepasst: Votan Wahnwitz und Bodo Ballermann, warum nicht? Aber dazu kam es nicht.

Jahr für Jahr sammelte Zander für seine Weihnachtsfeier bei irgendwelchen Promis Geld, und sicher wird auch Udo Lindenberg was gegeben haben. Das Event selbst aber nahm ihm niemand ab. – Im Übrigen war der Strassenfeger deshalb auch Mitveranstalter; durch unseren Verein konnten die Spenden von der Steuer abgesetzt werden (Heute übernimmt diese Aufgabe das Diakonische Werk). Und auf Spenden für das Fest war Frank Zander angewiesen.

Der große Erfolg als Musiker und Komiker lag bei ihm schon lange zurück. Obwohl er mir voller Stolz im Studio seine neue Goldene Schallplatte zeigte – für die ganz persönliche Geburtstagssingle. 250.000 verkaufte Exemplare. Aber zu was für Produktionskosten! Frank Zander hatte damals ein und dasselbe Geburtstagslied mit Hunderten Vornamen eingesungen. Es gab also nicht eine Single, sondern Hunderte. „Alle Namen?“, habe ich gefragt. Und Zander: „Fast alle.“ – „Welche denn nicht?“ – „Na zum Beispiel Adolf.“ Und wieder wurde mir warm ums Herz. Ein Antifaschist ist Frank Zander also auch noch. Er wollte nicht, dass seine Platte auf irgendeiner Hitler-Geburtstagsfeier aufgelegt wird.

Außerdem war Zander sehr fürsorglich. Nach der Weihnachtsfeier im Estrel, beim Abbau der Anlage, entdeckten seine Leute eine Frau, die in den Planen eingewickelt war und dort ihren Rausch ausschlief oder bewusstlos war. Niemand konnte sich erklären, wie die Dame da reingekommen war. Der Chef aber sorgte dafür, dass sofort der Rettungswagen kam.

Bei meinem Besuch fragte er mich nach ihr. „Nach Hause ist sie nicht“, sagte ich. Und Zander: „Ich weiß.“

Wer noch fürs Weihnachtsfest von Frank Zander spenden möchte, findet hier alle Infos:
www.obdachlosenfest.de

Karsten Krampitz hat für die Berliner Straßenzeitungen Hunnis Allgemeine Zeitung (HAZ), Motz und Strassenfeger, als Autor, Redakteur und Chefredakteur gearbeitet. Sein jüngstes Buch Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923 hat er soeben im Verbrecher-Verlag veröffentlicht.

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Umarmung | Frank Zanders Weihnachtsfeier für Obdachlose in Berlin: „Nur nach Hause gehn wir nicht!“

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19.12.2023

Mein wohl schönstes Weihnachtserlebnis liegt viele Jahre zurück, als in einem Saal mehr als anderthalbtausend Obdachlose hackevoll gesungen haben, dass sie nicht nach Hause gehen.

In Berlin war das, im Neuköllner Hotel Estrel, Ende der Neunziger. Frank Zander stand auf der Bühne, um – wie jedes Jahr bei seiner Weihnachtsfeier für Unbehauste – vier oder fünf Lieder zu singen. Nur, dass er diesmal nicht nur die alten Hits sang, von wegen Ich trink auf dein Wohl, Marie (Ich liebe diesen Song!) oder Marlene. Als Zugabe hatte er seine damals neue offizielle Hertha-BSC-Hymne im Programm: Nur nach Hause gehen wir nicht.

Wir haben später darüber geredet. Als früherer Schlussredakteur des Strassenfeger habe ich es mit ihm auf mindestens drei Interviews gebracht. „Hast du das gesehen?“, habe ich ihn gefragt. – „Ja, klar. War nicht zu übersehen …“ Ich hätte heulen können, so schön war das. Andere haben geheult. So viele Unbedachte lagen einander in den Armen, betrunken und glückselig, sangen nach der Melodie der bekannten Sailing-Schnulze von Rod Stewart: „Nur nach Hause, /Nur nach Hause, /Nur nach Hause gehn wir nicht!“

In den Medien war jetzt zu erfahren, dass Frank Zander in die Charité eingeliefert worden war. Nach einer Corona-Infektion sei er einfach nicht mehr auf die Beine gekommen. Inzwischen ist der 81-Jährige wieder daheim. Es gehe ihm besser, aber er sei nicht gesund, heißt es, und dass am Freitag auf jeden Fall zum 29. Mal die Weihnachtsfeier für Obdachlose stattfinden werde. Und bestimmt auch mit Frank Zander. Hoffen wir das Beste.

Dazu muss man wissen, die Frank-Zander-Weihnachtsfeier ist bis heute die einzige in Berlin, wo die armen Schlucker zum Fest nicht nur Braten und Geschenke bekommen, sondern auch ein Bierchen. Oder zwei oder drei, da fragt keiner. Allein die Getränkerechnung der Weihnachtsfeier war seinerzeit fünfstellig …

Das Vorprogramm hatten die Gebrüder Blattschuss übernommen (Kreuzberger Nächte sind lang!). Nachdem nun die Stimmung im Saal proportional zum Alkoholpegel angestiegen war und alle, wirklich alle satt und viele eben besoffen, kam the Master himself on stage!........

© der Freitag


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