Irgendeine „Kompromisslösung“ wird in Europa als wahrscheinlichstes Ende des Ukraine-Krieges vermutet. Der erkennbare Stimmungsumschwung – im vergangenen Jahr um diese Zeit sagten noch viele Europäer, dass die Ukraine verlorenes Territorium in Gänze zurückgewinnen werde – verlange von den Politikern einen „realistischeren Ansatz“. Sie müssten definieren, worin ein akzeptabler Frieden bestehen könne, so die Organisatoren einer aktuellen Umfrage, die der European Council on Foreign Relations (ECFR) in Auftrag gab. „Um für eine anhaltende Unterstützung der Ukraine zu plädieren, müssen die Staats- und Regierungschefs der EU die Art und Weise ändern, in der sie über den Krieg reden“, so Mark Leonard, Co-Autor einer auf der Erhebung fußenden Studie. Die meisten Europäer seien „daran interessiert, einen russischen Sieg zu verhindern“. Sie glaubten jedoch nicht, dass dies gelinge.

Die Umfrage in zwölf EU-Mitgliedsstaaten – darunter in Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, den Niederlanden, Polen, Spanien und Schweden – zeigte zudem, dass die Befürchtungen wegen eines Kurswechsels in den USA wachsen und die Aussicht auf eine zweite Amtszeit von Donald Trump Pessimismus über den Ausgang des Ukraine-Krieges schürt. Dieses Stimmungsbild entstand vor dem Rückzug der ukrainischen Armee aus der Stadt Awdijiwka, der Russland den bedeutendsten Sieg seit der Einnahme von Bachmut durch Wagner-Truppen im Mai 2023 bescherte.

Die Studie Kriege und Wahlen. Wie die europäischen Staats- und Regierungschefs die öffentliche Unterstützung für die Ukraine aufrechterhalten können hält weiter fest, dass inzwischen jeder fünfte EU-Bürger an einen Sieg Russlands glaubt, nur noch jeder zehnte an einen der Ukraine. Selbst in Mitgliedsstaaten, in denen 2023 noch viel Optimismus herrschte – in Polen, Schweden und Portugal –, halten es im Schnitt nur noch 17 Prozent der Befragten für denkbar, dass Kiew sich durchsetzt. In Schweden sagten 50 Prozent der Interviewten, in Portugal 48 und in Polen 47, dass Europa der Ukraine helfen sollte, sich zu wehren, während in Ungarn 64, in Griechenland 59 und in Italien 52 Prozent erklärten, sie würde es vorziehen, dass Kiew zu einer Einigung gedrängt wird. In Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Spanien waren die Meinungen pro oder kontra Verhandlungseinstieg gleichmäßiger verteilt.

Aufschlussreich ist ebenso der mit der Umfrage dokumentierte Eindruck vieler Europäer, dass der Ukraine-Krieg sie immer direkter betreffe. 33 Prozent finden, er habe größere Auswirkungen auf ihr Land und Europa (29 Prozent) als der Gaza-Krieg. Eine denkbare Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus wird fast durchweg als schlechte Nachricht empfunden. Die Ausnahme bildet Ungarn, wo 27 Prozent der Befragten meinen, sie würden sich über eine zweite Präsidentschaft Trumps freuen, während 31 Prozent enttäuscht wären. Dem entspricht, dass nur die Anhänger einer großen Partei in der EU – die der ungarischen Fidesz – auf einen Triumph Trumps hoffen. Was die meisten rechtsextremen Parteien angeht, die sonst ihre Sympathien für die US-Republikaner zum Ausdruck bringen, sagt nur ein Drittel der Wähler der deutschen AfD, der österreichischen FPÖ oder der italienischen Fratelli d’Italia, dass ihnen eine Rückkehr Trumps willkommen wäre. Unter den Anhängern von Marine Le Pens Rassemblement National und der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen fiel die Pro-Trump-Stimmung noch schwächer aus.

Für den Fall, dass die USA unter Trump die Militärhilfe für die Ukraine einstellen, sagten 41 Prozent der Europäer, dass die EU ihren Beistand dann entweder steigern oder auf dem derzeitigen Niveau halten sollte. 33 Prozent würden es dagegen vorziehen, dann dem Beispiel der USA zu folgen. Alles in allem sind die Europäer am zweiten Jahrestag der russischen Invasion nicht in heroischer Stimmung oder auch nur optimistisch. Angesichts des beginnenden Wahlkampfs um die Sitze im EU-Parlament und der bereits begonnenen Wahlschlacht in den USA werde „die Suche nach einer Definition für einen möglichen Frieden ein entscheidender Kriegsschauplatz sein“, heißt es in der zitierten Studie. „Die führenden Politiker werden eine neue Sprache finden müssen, die der aktuellen Stimmung gerecht wird.“

Jon Henley ist Europa-Korrespondent des Guardian

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Stimmungsbild | EU-Umfrage: Nur noch jeder zehnte Europäer glaubt an einen Sieg der Ukraine

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23.02.2024

Irgendeine „Kompromisslösung“ wird in Europa als wahrscheinlichstes Ende des Ukraine-Krieges vermutet. Der erkennbare Stimmungsumschwung – im vergangenen Jahr um diese Zeit sagten noch viele Europäer, dass die Ukraine verlorenes Territorium in Gänze zurückgewinnen werde – verlange von den Politikern einen „realistischeren Ansatz“. Sie müssten definieren, worin ein akzeptabler Frieden bestehen könne, so die Organisatoren einer aktuellen Umfrage, die der European Council on Foreign Relations (ECFR) in Auftrag gab. „Um für eine anhaltende Unterstützung der Ukraine zu plädieren, müssen die Staats- und Regierungschefs der EU die Art und Weise ändern, in der sie über den Krieg reden“, so Mark Leonard, Co-Autor einer auf der Erhebung fußenden Studie. Die meisten Europäer seien „daran interessiert, einen russischen Sieg zu verhindern“. Sie glaubten jedoch nicht, dass dies gelinge.

Die Umfrage in zwölf EU-Mitgliedsstaaten – darunter in Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, den Niederlanden, Polen, Spanien und Schweden – zeigte zudem, dass die........

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