Ein Arzt, 74 Jahre alt, hilft einer Frau, 37 Jahre alt, sich das Leben zu nehmen. Er leistet ihr Sterbehilfe. Die Frau ist psychisch krank. Nur psychisch? Es ist ein Fall, der Misstrauen hervorruft, Entsetzen sogar. Selbst bei Menschen, die eigentlich nicht gegen Sterbehilfe sind. Die einer Frau, die unheilbar an Krebs erkrankt ist, unter Schmerzen leidet, die sich nur dämpfen lassen, das Recht einräumen würden, über das Ende ihres Lebens selbst zu entscheiden.

Aber einer Depressiven wie Isabell R.? So hieß die Frau, der Christoph Turowski in Berlin vor drei Jahren beim Suizid geholfen hat. Der Arzt und erfahrene Sterbehelfer ist deshalb am Montag zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Er hat angekündigt, Revision einzulegen.

Das Unbehagen, das der Fall hervorruft, hat auch damit zu tun, dass zwar inzwischen mehr über psychische Erkrankungen gesprochen wird, vieles dabei aber immer noch oberflächlich bleibt. Es ist nur die Psyche? Na, dann sei doch froh! Das ist ein Satz, der immer noch fallen kann, wenn man sich traut, sich zu offenbaren. Wer in eine Klinik muss, eine Reha-Kur antreten, der schiebt lieber den Rücken vor, die Bandscheiben, oder redet von einem Burnout, statt zuzugeben: Es ist eine mittelgradige Depression. Manche Erkrankungen sind noch weitaus stärker tabuisiert. Immerhin haben sich Rapper und Schauspielerinnen inzwischen zu Depressionen oder zu Suchterkrankungen bekannt. Wer aber spricht je über eine schizophrene Psychose?

Es kommt auch vor, dass die Diagnosen der Stars als Marketing abgetan werden. Wieso haben das jetzt alle? Aber psychische Erkrankungen gibt es weitaus häufiger, als die meisten Menschen ahnen. Die innere Unruhe zerstört Tage und Nächte, unbestimmte Ängste lassen das Herz rasen, die Luft knapp werden, die Depression macht aus dem Weg vom Bett bis zur Dusche einen Marathon, sie redet einem ein, nichts zu können und nichts wert zu sein. Jeder dritte, vielleicht sogar jeder zweite Erwachsene erlebt irgendwann solche Zustände über eine längere Zeit.

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Zum Glück ist das in den meisten Fällen behandelbar, mit Therapien, mit Medikamenten, mit einer Mischung aus beidem. Die Suche nach einem Therapeuten kann eine Zumutung für Menschen sein, die kaum mehr die Kraft haben, das Haus zu verlassen; im Notfall kann (und sollte) man sich direkt an eine Klinik wenden. Es kann auch dort dauern, bis die Ärzte herausgefunden haben, was hilft. Auch wenn das Wort „Psychiatrie“ seinen Schrecken noch nicht verloren hat – eine psychiatrische Klinik kann ein Ort der Rettung sein.

Manchmal aber gibt es keine Rettung. In den schwersten Fällen hilft keine Therapeutin, kein Medikament, bringt auch der zehnte Aufenthalt in einer Klinik keine Besserung. In der Sprache der Ärzte ist die Erkrankung dann „therapieresistent“. Die Mittel, über die sie bisher verfügen, sind ausgereizt.

War das so bei Isabell R., der 37 Jahre alten Frau aus Berlin, die unter Depressionen litt? Ihr Sterbehelfer sagt, so habe sie es ihm erzählt. Zwei Suizidversuche lagen bereits hinter ihr, als sie ihn traf. Hat er gründlich genug geprüft, ob die Therapiemöglichkeiten wirklich ausgeschöpft waren? Der Arzt hat ihre Krankenakte nicht eingesehen, kein psychiatrisches Gutachten eingefordert, sagte der Richter, als er das Urteil verkündete, das sei „hochproblematisch“. So klingt es in der Tat.

Es gibt einen zweiten Grund für das Unbehagen, das einen überfällt, wenn man sich mit diesem Fall beschäftigt. In Deutschland ist Sterbehilfe inzwischen zwar nicht mehr verboten – aber sie ist auch nicht gesetzlich geregelt. Die Politiker im Bundestag drücken sich vor diesem Thema. Ärzte und Sterbehilfevereine agieren in einem Graubereich.

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Unheilbar kranke Menschen müssen das Recht haben, selbstbestimmt und medizinisch begleitet sterben zu dürfen. Auch unheilbar psychisch kranke Menschen. Wer sie grundsätzlich von diesem Recht ausschließt, nimmt in Kauf, dass sie weiterhin gewaltsame, schmerzhafte, für Dritte traumatisierende Methoden für einen Suizid wählen. Außerdem könnte der Kontakt zu einem Sterbehelfer auch noch einmal eine Chance sein – wenn dieser Sterbehelfer sich eingehend mit der bisherigen Behandlung beschäftigt, eine Gutachterin sich mit der Patientin befasst. Vielleicht gibt es doch noch eine Behandlung, die man probieren könnte?

Drogen wie MDMA oder Ketamin haben in Studien schon Patienten geholfen, deren Depressionen als therapieresistent galten. Ist die Teilnahme an einer Studie möglich, hilft die Aussicht auf neue Medikamente? Die Forschung muss dringend vorangetrieben, die Behandlungsmöglichkeiten müssen ausgebaut werden. Dass es so schwer ist, Therapeuten zu finden, ist ein Skandal. Auch psychisch kranke Menschen brauchen vor dem Recht auf Sterbehilfe das Recht auf die bestmögliche medizinische Behandlung.

QOSHE - Was depressive Menschen dringender brauchen als Sterbehilfe - Wiebke Hollersen
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Was depressive Menschen dringender brauchen als Sterbehilfe

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09.04.2024

Ein Arzt, 74 Jahre alt, hilft einer Frau, 37 Jahre alt, sich das Leben zu nehmen. Er leistet ihr Sterbehilfe. Die Frau ist psychisch krank. Nur psychisch? Es ist ein Fall, der Misstrauen hervorruft, Entsetzen sogar. Selbst bei Menschen, die eigentlich nicht gegen Sterbehilfe sind. Die einer Frau, die unheilbar an Krebs erkrankt ist, unter Schmerzen leidet, die sich nur dämpfen lassen, das Recht einräumen würden, über das Ende ihres Lebens selbst zu entscheiden.

Aber einer Depressiven wie Isabell R.? So hieß die Frau, der Christoph Turowski in Berlin vor drei Jahren beim Suizid geholfen hat. Der Arzt und erfahrene Sterbehelfer ist deshalb am Montag zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Er hat angekündigt, Revision einzulegen.

Das Unbehagen, das der Fall hervorruft, hat auch damit zu tun, dass zwar inzwischen mehr über psychische Erkrankungen gesprochen wird, vieles dabei aber immer noch oberflächlich bleibt. Es ist nur die Psyche? Na, dann sei doch froh! Das ist ein Satz, der immer noch fallen kann, wenn man sich traut, sich zu offenbaren. Wer in eine Klinik muss, eine Reha-Kur antreten, der schiebt lieber den Rücken vor, die Bandscheiben, oder redet von einem Burnout, statt zuzugeben: Es ist eine mittelgradige Depression. Manche Erkrankungen sind noch weitaus stärker........

© Berliner Zeitung


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