Erinnert sich noch jemand an die Töpfchen-These? Zehn Jahre nach dem Mauerfall behauptete Christian Pfeiffer, ein Kriminologe aus Hannover, dass die Jugendlichen in Ostdeutschland einen Schaden aus ihrer Zeit in Kinderkrippe und Kindergarten haben. Weil sie dort alle zur gleichen Zeit aufs Töpfchen gezwungen wurden, statt weiter Windeln tragen zu dürfen.

Die Erziehung in den Kitas sei überhaupt furchtbar autoritär und streng gewesen. Das habe zu einer Ich-Schwäche geführt. Deswegen seien die Teenager im Nachwendeosten so ausländerfeindlich und gewalttätig.

Überall wurde über diese These berichtet, oft wurden dazu Fotos gezeigt, auf denen DDR-Kinder tatsächlich nebeneinander auf Töpfchen hockten. Mir waren die Berichte und die Fotos unangenehm, ich schämte mich, schwer zu sagen, warum. Ich war in der Krippe, bevor ich ein Jahr alt wurde, danach im Kindergarten, ich erinnere mich an den Garten, in dem ich tobte, bis ich völlig verdreckt war, aber nicht an eine einzige strenge Erzieherin. Auf jedem der Fotos, das mich in meinem Kindergarten zeigt, sieht man mich lachen. Mein Bruder protestierte am Ende seiner Kindergartenzeit sogar lautstark. Er liebte unseren Kindergarten auf der Fischerinsel und wollte ihn nicht gegen eine Schule tauschen. So viel zu seiner Ich-Schwäche.

Katja Hoyer: „Bei jungen Westdeutschen gibt es ein enormes Interesse an der DDR“

01.04.2024

Zwang die DDR schwangere Mosambikanerinnen zur Heimkehr? Ein Faktencheck

01.04.2024

Die Töpfchen-These verschwand wieder, aber Westdeutsche erklärten mir noch lange: Es könne nicht gut gewesen sein, dass wir so früh „fremdbetreut“ wurden. Ich konnte nur mit meinem Gefühl dagegenhalten, aber ich war lange genug Wissenschaftsredakteurin, um zu wissen, dass man sich damit täuschen kann.

Daran musste ich denken, als ich eine Studie las, die vor zwei Wochen im Deutschen Ärzteblatt erschienen ist. Elmar Brähler hat sie geleitet, Professor für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, er stammt aus dem Westen, ging aber schon 1994 nach Leipzig. Als Gastwissenschaftler an der Uni Mainz leitet er das große Forschungsprojekt „DDR-Vergangenheit und psychische Gesundheit: Risiko- und Schutzfaktoren“. Brähler stößt dabei auch auf Erkenntnisse, die verbreiteten Klischees widersprechen. So hat er unter anderem gezeigt, dass Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, seltener Kindheitstraumata erlitten haben als Westdeutsche.

•gestern

•gestern

•vor 6 Std.

gestern

02.04.2024

Nun haben Brähler und seine Kollegen 1575 Menschen befragt, die in der DDR aufgewachsen sind. Etwa ein Drittel von ihnen war weder in der Krippe noch im Kindergarten, ein Drittel wurde schon vor dem dritten Geburtstag betreut, ein Drittel erst danach. Die Forscher fragten, wer im Laufe seines Lebens eine Depression, eine Angsterkrankung oder eine andere psychische Störung durchlebt hat – und fanden zwischen den drei Gruppen keine Unterschiede. 27 Studienteilnehmer waren als Kinder in Wochenkrippen oder über längere Zeiträume von ihren Eltern getrennt, ihnen ging es psychisch schlechter. Die Gruppe sei aber zu klein, um die Ergebnisse sinnvoll auszuwerten, schreiben die Forscher.

Wochenkrippen und normale DDR-Krippen, aus denen die Kinder am Nachmittag abgeholt wurden, würden in der Diskussion oft vermischt, jede frühe Betreuung für schädlich erklärt, sagt Elmar Brähler am Telefon. Auf Kongressen von Psychotherapeuten werde die neue Studie kontrovers diskutiert. Kollegen aus dem Westen beharrten auf der Geschichte vom Krippentrauma bei den Ostdeutschen, beriefen sich auf individuelle Fälle. Kollegen aus dem Osten atmeten auf.

QOSHE - Kinderbetreuung in der DDR: Das Klischee vom Krippentrauma - Wiebke Hollersen
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Kinderbetreuung in der DDR: Das Klischee vom Krippentrauma

18 0
04.04.2024

Erinnert sich noch jemand an die Töpfchen-These? Zehn Jahre nach dem Mauerfall behauptete Christian Pfeiffer, ein Kriminologe aus Hannover, dass die Jugendlichen in Ostdeutschland einen Schaden aus ihrer Zeit in Kinderkrippe und Kindergarten haben. Weil sie dort alle zur gleichen Zeit aufs Töpfchen gezwungen wurden, statt weiter Windeln tragen zu dürfen.

Die Erziehung in den Kitas sei überhaupt furchtbar autoritär und streng gewesen. Das habe zu einer Ich-Schwäche geführt. Deswegen seien die Teenager im Nachwendeosten so ausländerfeindlich und gewalttätig.

Überall wurde über diese These berichtet, oft wurden dazu Fotos gezeigt, auf denen DDR-Kinder tatsächlich nebeneinander auf Töpfchen hockten. Mir waren die Berichte und die Fotos unangenehm, ich schämte mich, schwer zu sagen, warum. Ich war in der Krippe, bevor ich ein Jahr alt wurde, danach im Kindergarten, ich erinnere mich an den........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play