Ost, West, ich kann es nicht mehr hören. Das interessiert doch keinen mehr! Ihr spaltet, wenn ihr ständig darauf herumhackt! Gibt es keine wichtigeren Themen? Ich höre diese Sätze in meinem Kopf, einen nach dem anderen, wenn ich doch wieder etwas dazu sagen, doch wieder darauf herumhacken will. Auf dem Ost-West-Thema. Ich kann verstehen, dass es vielen zum Hals heraushängt. Es nervt mich ja selbst oft.

Aber es verfolgt mich auch. Ich lese etwa einen Artikel über die Generation Z, das sind Leute unter 27, die angeblich schon beim ersten Vorstellungsgespräch eine Vier-Tage-Woche, Homeoffice für immer und ein Sabbatical von ihren möglichen Chefs verlangen. Ich finde das sympathisch. Die Jüngeren haben verstanden, dass ein Leben schnell vorbeigeht und niemand am Ende bereut, zu wenig Zeit im Büro verbracht zu haben, denke ich. In dem Artikel steht als Erklärung, sie hätten begriffen, dass sich ihre Eltern noch „ein Haus mit Garten“ leisten konnten, für sie aber „nicht einmal mehr eine Eigentumswohnung drin ist“. Klar, wenn keine Immobilie zu holen ist, lohnt sich arbeiten nicht. Mein innerer Ost-West-Konflikt springt an.

Claus Weselsky: „Westdeutsche haben sich mit Buschzulage in höchste Stellen gebeamt“

30.04.2024

Katja Hoyer: „Bei jungen Westdeutschen gibt es ein enormes Interesse an der DDR“

01.04.2024

Nicht mal mehr eine Eigentumswohnung! In dem Artikel sagt der Generationenforscher Klaus Hurrelmann noch etwas über den „Sicherheitskokon“, in dem die Kinder der 1980er- und frühen 1990er-Jahre aufwuchsen. Ich stelle mir eine weiche, warme Hülle vor, in der man sich zusammenrollen kann. Also genau das Gegenteil der Welt, in der die ostdeutschen Kinder der 1980er- und frühen 1990er-Jahre aufwuchsen.

Ich habe wirklich keine Lust mehr, ständig über die Massenarbeitslosigkeit der Nachwendejahre zu reden, über die Millionen, die ihre Heimat verlassen mussten, über die Familien, die an all dem zerbrachen. Aber ich ertrage es auch nicht, dass man sie immer wieder übersieht, vergisst, als nicht so wichtig abhakt. Dass es immer nur eine deutsche Erfahrung gibt, die westdeutsche.

30.04.2024

•vor 8 Std.

30.04.2024

Die oft erzählte Geschichte von der bedauernswerten, jungen Generation, die den Wohlstand der Eltern nicht mehr durch eigene Arbeit erreichen wird, ist eine westdeutsche Geschichte. Das fällt nur niemandem auf, auch einem angesehenen Generationenforscher nicht.

Wenn über das Abtreibungsrecht geredet wird, den Paragrafen 218, weiß kaum jemand, dass er in der DDR schon 1972 abgeschafft wurde. Wenn es um kaputte Ehen geht, schreibt eine Autorin im Tagesspiegel natürlich, dass bis 1967 in Deutschland bei jeder Scheidung ein Schuldiger ausgemacht werden musste. In der DDR wurde das Schuldprinzip schon 1955 gestrichen, aber ach, egal! Hören wir mit diesem nervigen Ost-West-Gerede auf.

Vor drei Wochen saß ich auf einer Bühne in Berlin. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte ein Gespräch zwischen der Autorin Sabine Rennefanz (die früher für die Berliner Zeitung gearbeitet hat) und der Filmemacherin Annika Pinske organisiert, ich moderierte. Wir sprachen über Heimat, Herkunft, die schwierigen 1990er, in der wir drei Kinder oder Jugendliche waren. Drei ostdeutsche Frauen. Dann sprang ein Zuhörer auf und widersprach. Er sei in dieser Zeit aus dem Westen in den Osten gekommen, sagte er und erklärte: Das sei doch eine so tolle Zeit gewesen voller Chancen!

Für einen Moment waren wir zu verblüfft, um zu antworten. Später wurde mir klar, dass es nur folgerichtig ist, auch diese Zeit endlich aus der einzig gültigen Perspektive erzählt zu bekommen. Der eines Westdeutschen.

QOSHE - Debattenkultur: Immer dieses nervige Ost-West-Gerede! - Wiebke Hollersen
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Debattenkultur: Immer dieses nervige Ost-West-Gerede!

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02.05.2024

Ost, West, ich kann es nicht mehr hören. Das interessiert doch keinen mehr! Ihr spaltet, wenn ihr ständig darauf herumhackt! Gibt es keine wichtigeren Themen? Ich höre diese Sätze in meinem Kopf, einen nach dem anderen, wenn ich doch wieder etwas dazu sagen, doch wieder darauf herumhacken will. Auf dem Ost-West-Thema. Ich kann verstehen, dass es vielen zum Hals heraushängt. Es nervt mich ja selbst oft.

Aber es verfolgt mich auch. Ich lese etwa einen Artikel über die Generation Z, das sind Leute unter 27, die angeblich schon beim ersten Vorstellungsgespräch eine Vier-Tage-Woche, Homeoffice für immer und ein Sabbatical von ihren möglichen Chefs verlangen. Ich finde das sympathisch. Die Jüngeren haben verstanden, dass ein Leben schnell vorbeigeht und niemand am Ende bereut, zu wenig Zeit im Büro verbracht zu haben, denke ich. In dem Artikel steht als Erklärung, sie hätten begriffen, dass sich ihre Eltern........

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