Katharina Günther-Wünsch hat einen festen Händedruck, spricht schnell und konzentriert. Man spürt sofort die Energie, mit der sie durchs Leben geht. Sie ist 41, Mutter von vier Kindern, hat Medizin studiert, als Lehrerin und Schulleiterin gearbeitet. Seit genau einem Jahr ist sie Bildungssenatorin im Berliner Senat. Sie war die Wunschkandidatin von Kai Wegner, dem Regierenden Bürgermeister, heißt es. Seit kurzem ist sie auch seine Partnerin. Ein kleiner politischer Skandal, der Günther-Wünsch schlagartig über die Grenzen Berlins bekannt machte und die Frage aufwarf, ob das gut geht – ein Liebespaar in der Berliner Regierung.

Darüber wolle sie nicht reden, lässt Günther-Wünsch im Vorfeld wissen, über alles andere schon. Beim Interview in der Senatsverwaltung im ehemaligen DDR-Polizeigebäude am Alexanderplatz spricht sie über ihre eigene Schulzeit in Dresden, ihr Leben als berufstätige Mutter und die anderen Ostfrauen im Senat. Auf dem Tisch stehen Blumen und Geschenke, gerade hatte sie Geburtstag

Frau Günther-Wünsch, Sie sind 1989, kurz vor dem Mauerfall, eingeschult worden. Wie war das?

Ich bin im Dresdner Westen auf die 35. Grundschule gegangen, habe noch das blaue Halstuch der Pioniere bekommen. Das war schnell wieder weg. Aber vieles andere ist noch eine Weile wie in der DDR geblieben. Wir haben Altstoffe gesammelt, hatten Schulgartenunterricht. In meiner Erinnerung noch in der gesamten Grundschulzeit.

Wie hat Sie Ihre Kindheit in der DDR geprägt? Stellen Sie Unterschiede fest zwischen Ihnen und Ihren Westkolleginnen?

Ich glaube, was uns unterscheidet, ist die Haltung zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es gab nie die Überlegung in meiner Familie oder bei meinen Freundinnen, nach der Geburt eines Kindes lange zu Hause zu bleiben oder Teilzeit arbeiten zu gehen. Und auch die Leistungsbereitschaft scheint mir eine andere, die Anstrengung, nach vorne zu kommen, mit einer gewissen Disziplin. Ich will das den Westfrauen nicht in Abrede stellen. Um Gottes Willen. Aber in meinem Umfeld sind wirklich alle Frauen arbeiten gegangen. Das ist für mich klassisch Ostfrau.

18.04.2024

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Und Ihr Vater hat mitgeholfen zu Hause?

Ja, er hat gekocht, gebacken, gewaschen, Fenster geputzt. Alles war gleich aufgeteilt. Ich erinnere mich allerdings nicht daran, dass meine Mutter Reifen gewechselt hat.

Ihre Leistungsbereitschaft ist wirklich auffallend. Im Abgeordnetenhaus schafften Sie es bei der Anzahl der kleinen Anfragen unter die Top 3. Sie haben vier Kinder, sind Senatorin und gerade mal 41. Wie schaffen Sie das alles?

Es war nie mein Plan, auf irgendwelchen Listen ganz oben zu stehen. Aber ich habe den Anspruch, wenn ich etwas übernehme, 150 Prozent zu geben. Ob als Schulleiterin oder als Senatorin. Wenn ich mich entscheide, eine Aufgabe zu übernehmen, möchte ich diese bestmöglich erledigen und eigentlich auch darüber hinaus. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben, schon zu Schulzeiten. Eine Kombination aus Ehrgeiz und Disziplin. Auch beim Leistungssport. Aber ich würde nicht sagen, es gab als Kind den Wunsch, mit 40 Senatorin zu werden.

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Was war dann Ihr Wunsch?

Ich wollte Bäuerin oder Superheldin werden. Wir sind sehr ländlich großgeworden, haben am Stadtrand von Dresden in einem Plattenbau gewohnt, aber gleich nebenan gab es viele Bauern und Äcker. Mein Ziel war immer, das Beste rauszuholen. Ich arbeite nicht, um Geld zu verdienen, sondern um Dinge zu verändern, etwas zu bewirken.

Waren Sie in der Schule Klassenbeste?

Ich war die, die am häufigsten beim Direktor gesessen hat.

Weil Sie frech waren?

Zumindest immer am Debattieren und Widersprechen. In meinen Zeugnissen steht: Katharina hat ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis.

Sie haben zwei ältere Brüder. Mussten Sie sich gegen die durchsetzen? Kam das daher?

Gar nicht. Meine Geschwister und ich haben immer zusammengehalten, waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Ich habe einfach Freude am Diskutieren.

Welchen Leistungssport haben Sie als Kind gemacht?

Ich habe mit Schwimmen angefangen, wurde aber nicht groß genug, was man beim Schwimmen sein muss, ich habe dann mit 14 gewechselt und sechs Jahre lang Kampfsport gemacht.

Und waren auch wieder gut?

Im regionalen Bereich, ja.

Sie haben nach dem Abitur erstmal Medizin studiert. Warum sind Sie nicht Ärztin geworden?

Ich habe als Schülerin neben der Schule in Arztpraxen und in der Altenpflege gearbeitet, um Geld zu verdienen. Beim Medizinstudium bin ich bis zum vorletzten Examen gekommen. Dann wurde mir klar, was das bedeutet: Ich war ein Kind aus einer Arbeiterfamilie, konnte keine Praxis übernehmen, hätte einen Millionenkredit aufnehmen müssen. Das sah damals alles noch anders aus: langer Weg, hohe Verschuldung. 15, 20 Jahre, bis ich mit dem Rücken von der Wand wegkomme und in die eigene Tasche wirtschafte. Das war der Grund für meine Entscheidung, einen Strich zu ziehen und mit dem Lehrerstudium anzufangen.

Der Lehrerberuf war finanziell sicherer?

Ja, ich habe schon einen Teil meines Medizinstudiums mit Nachhilfe finanziert, mit straffälligen Jugendlichen gearbeitet, mit Erwachsenen, die auf dem zweiten Bildungsweg ihren Schulabschluss gemacht haben. Das hat mir großen Spaß gemacht, und ich habe gedacht, das kann ein guter Beruf sein.

Was war Ihr Lieblingsfach in der Schule?

Naturwissenschaften. Mathematik, Chemie, Biologie. Physik war das einzige Fach, das mir schwerfiel.

Gab es einen Lehrer oder eine Lehrerin, die Sie geprägt haben?

Ja, meine Klassenlehrerin, die auch meine Deutschlehrerin war. Sie hat immer gesagt, Kathi, du hast viele kluge Ideen, aber sortiere sie doch, bevor du redest. Der Rat hat mich lange begleitet: zuzuhören und Gedanken in eine logische Reihenfolge zu bringen. Frau Scharf, so hieß meine Deutschlehrerin, ist leider schon tot. Die Zweite, die mich geprägt hat, war die Lehrerin aus meinem Mathe-Leistungskurs. Die hatte Haare auf den Zähnen. Und in einer Zeit, als mir Schule gerade nicht so wichtig war, hat sie mir beigebracht, sich durchzukämpfen, auch wenn man mal keinen Bock hat und es wichtigere Dinge zu geben scheint. An die beiden erinnere ich mich sehr oft.

Spielen Ihre persönlichen Erfahrungen bei Ihren Plänen zur Veränderung des Schulsystems in Berlin eine Rolle?

Ich wünsche mir sehr, dass der Bildungsbegriff wieder breiter und lebensorientierter wird, mit Fächern wie Schulgarten, Werkunterricht. Und dass wir den Fokus wieder mehr auf den Bildungsauftrag legen, das Kerngeschäft von Schule, verbunden mit dem Leistungsgedanken. Auch wir hatten damals nicht immer genug Lehrer. Auch auf meinem Zeugnis stehen Fächer, die nicht benotet wurden, weil Lehrer gefehlt haben. Aber wir müssen immer fragen: Was ist das Kerngeschäft?

Und was ist das?

Die Basis. Schreiben, Rechnen, Lesen. Dieses Wissen geht in alle anderen Fächer hinein. Auch in die Demokratie- und Wertebildung.

Das Bundesland Sachsen macht das ähnlich. Haben Sie es sich von da abgeguckt?

Nicht nur von Sachsen, Hamburg als Stadtstaat hat schon vor zehn Jahren diesen Weg eingeschlagen und erntet jetzt die Früchte.

Was sagen Sie zur Benotung? Ja oder nein?

Man kann es auch über verbale Bewertungen machen, aber in der Regel brauchen Kinder eine sehr klare Rückmeldung. Das sagt auch die Forschung.

Schulgarten, Werken, Noten, das klingt, als würden die Schulen unter Ihnen wieder ein bisschen ostdeutscher werden.

Ich sehe den Ansatz nicht nur im ostdeutschen Bildungssystem. Auch wenn es Elemente zu geben scheint, die gut und richtig waren. Beim DDR-Bildungssystem lag der Fokus sehr auf Mathe und Deutsch. Es ging um trainieren, üben, vertiefen, das Wissen in dem Tempo, der Zeit, die jeder braucht, zu erwerben. Und tatsächlich gibt es in der Wissenschaft zunehmend Anerkennung für die Bedeutung von praxisorientiertem Lernen. Deshalb war es mir wichtig, nachdem ich auf einem Gymnasium unterrichtet habe, in Berlin auf eine Gemeinschaftsschule zu gehen, dieses Schulmodell gab es ja in Sachsen nicht.

In der Gemeinschaftsschule lernen Schüler bis zur 10. oder 13. Klasse zusammen.

Ja, ich habe in Gropiusstadt unterrichtet, wollte wissen, was geht hier, was für neue Konzepte können wir aufstellen, wie können wir mit einer Mangelsituation an Lehrern umgehen? Schafft die Gemeinschaftsschule es besser, die soziale Schere zu überwinden oder nicht?

Und?

Ich will nicht die eine Schulform gegen die andere setzen. Es kommt stets auf das Kind und seine Bedürfnisse an. Deshalb bin ich froh, dass wir in Berlin eine so vielfältige Schullandschaft haben. Die will ich beibehalten und qualitativ weiterentwickeln, ohne schulideologische Scheuklappen.

Wann und warum sind Sie nach Berlin gegangen?

2013, der Grund war ein privater, aber ich wollte wirklich noch einmal neue Schulformen kennenlernen.

Sie sind nach Marzahn-Hellersdorf gezogen. Warum?

Weil es schön ist. Ein grüner Bezirk. Mit Schule, Kita, allem, was wir brauchten.

Sie waren sehr jung, als Sie Ihr erstes Kind bekommen haben?

Ja, 24, im Lehramtsstudium.

Wie haben Sie das mit dem Baby gemacht im Studium?

Ich habe im Februar entbunden, und im April ging das Semester wieder los. Ich habe mir das Baby umgeschnallt, bin in die Vorlesungen und Seminare gegangen und habe den Rest autodidaktisch zu Hause gelernt. In Dresden hatte ich natürlich noch die Unterstützung meiner Eltern.

Und später in Berlin, als Lehrerin, wie haben Sie es da gemacht?

Genauso, auch mit dem zweiten und dem dritten Jungen. Fairerweise muss man sagen, Pädagogin ist ein Beruf, in dem das eher möglich ist, man kann das mit dem Kollegium absprechen. Und relativ schnell wieder arbeiten gehen, nach acht Wochen. Das geht für eine Krankenschwester oder eine Frau im Einzelhandel nicht.

Was macht man, wenn das Baby im Unterricht schreit?

Dann geht man kurz raus, stillt, und kommt wieder rein.

Haben Kolleginnen Ihnen das nachgemacht? Im Westen war es ja eher unüblich, so schnell wieder arbeiten zu gehen.

In der Schule habe ich das Modell auch als stellvertretende Schulleiterin gelebt. Da hatte ich Kolleginnen, die gesagt haben: Kathi, ich würde gern nach der Entbindung eher zurückkommen, in Teilzeit, kann ich mein Baby auch mal mitbringen? Andere zu ermutigen, ein Vorbild sein, das ist wichtig, gerade, wenn man eine Führungsposition hat.

Ihre Nächte waren wahrscheinlich ziemlich kurz?

Ja, und die Augenringe tief. Ich möchte es jetzt, mit über 40, nicht mehr machen. Zwischen 24 und Mitte 30 hat das besser funktioniert, mit dem Schlafmangel auszukommen. Zum Glück komme ich generell mit wenig Schlaf ganz gut aus.

Und Ihre Kinder, wie war das für die?

Die fanden das gut. Sie sind jetzt 16, acht und vier Jahre alt. Sie sind aufgeschlossen und munter, sie flitzen auch hier durch die Gänge. Wenn die Kita oder Schule mal zuhaben, nehme ich sie auch mal mit zur Arbeit, in die Senatsverwaltung.

Eines Ihrer Kinder ist ein Pflegekind. Warum haben Sie es zu sich genommen?

Mein mittlerer Sohn ist mit zehn Wochen zu uns gekommen, ich habe ihn auch gleich mit zur Arbeit genommen. Mein damaliger Mann und ich hatten darüber nachgedacht, ein Kind zu adoptieren, eventuell aus dem Ausland, aus prekären Verhältnissen. Dann haben wir von Bekannten erfahren, dass man auch Pflegekinder dauerhaft bei sich aufnehmen kann. Das wussten wir vorher nicht. Wir sind den normalen Weg gegangen, über das Jugendamt, und irgendwann kam der Anruf.

Wann haben Sie angefangen, neben Job und Kindern auch noch Politik zu machen?

Das fing schon vorher an, mit 18 in Dresden. Die Schwimmhalle, in der ich trainiert habe, sollte geschlossen werden, aufgrund von Sanierungsarbeiten. Und ich wollte unbedingt, dass sie offenbleibt, habe mich an den lokalen Abgeordneten gewendet. Und es ist mir tatsächlich gelungen, da etwas zu bewegen. Hinzu kommt, dass auch bei mir zu Hause viel über Politik geredet wurde. Als Studentin habe ich mich weiter engagiert, war Sprecherin, bin Stück für Stück reingewachsen.

In die CDU sind Sie aber erst in Berlin eingetreten?

Ja, es kam auch nie eine andere Partei infrage. Der Abgeordnete, mit dem ich für die Schwimmhalle gekämpft habe, war auch in der Union.

Was hat Sie an der CDU angezogen?

Die Werte, die vertreten werden. Ein Stück weit auch das Leistungsprinzip. In der Bildungspolitik etwa. Eine Parteimitgliedschaft ist, wie eine gute Ehe, immer ein Kompromiss. Man ist nie mit allem zu hundert Prozent einverstanden. Aber ich fühle mich in der CDU schon lange gut aufgehoben.

Was halten Sie von Quoten für Frauen?

Gar nichts! Was nützt mir eine Quote, wenn die Rahmenbedingungen nicht so sind, dass die Quote mit Inhalt gefüllt werden kann? Die unterschiedlichen Vereinbarkeiten: Kinder mit dem Beruf oder die Pflege von Eltern. Darüber müssen wir debattieren. Ich würde mir wünschen, dass wir uns fragen: Was braucht es, damit gerade Frauen Verantwortung und Führung übernehmen? Wie geben wir ihnen ein gutes Gefühl, wenn sie ihre Kinder mit ins Büro bringen? Ermöglichen wir Homeoffice? Ist der Hort lange genug geöffnet?

Als Sie 2021 ins Abgeordnetenhaus gewählt wurden, waren Sie eine von nur vier Frauen in der CDU-Fraktion. Es gab 26 Männer. Wie war das für Sie?

So schlimm sind die CDU-Männer nicht! Die Fraktion war extrem kooperativ, zugewandt, offen, es hat keine Rolle gespielt, ob Sie ein Mann oder eine Frau sind. Es ging darum, ob man seine Themen im Griff hatte. So habe ich das immer, seit ich in der Landespolitik mitmachen darf, erlebt.

Es gab nie einen frauenfeindlichen Spruch?

Nein, nie.

Trotzdem, braucht man bei solchen Verhältnissen nicht doch eine Quote?

Die Frage ist doch: Sorgt die Quote dafür, dass Frauen sich eher angesprochen fühlen? Oder ist es ein zwanghaftes Besetzen von Stellen? Klar, wir haben immer noch Bewerbungsgespräche, die von Männern dominiert werden und in denen sich Frauen mitunter unwohl fühlen. Aber es gibt auch Frauen, die bewerben sich gar nicht erst, obwohl sie alle Voraussetzungen erfüllen. Weil die Kita ihrer Kinder schon um 16 Uhr schließt.

Wie bringen Sie Frauen dazu, sich bei Ihnen oder in Schulen zu bewerben?

Wir haben in der Senatsverwaltung ein Familienzimmer. Wir haben einen Stillraum. Ich bin auch für das Modell des Jobsharings, sich Stellen zu teilen. Frauen wollen nicht erst mit 50 Jahren Schulleiterinnen werden, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Seit Anfang des Jahres können sich Teams, die sich vorher finden, gemeinsam auf eine Schulleitung bewerben. Man muss die Bedingungen schaffen, dann machen sich die Frauen auf den Weg.

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Im Senat sind außer Ihnen noch drei weitere Ostfrauen: Franziska Giffey und Iris Spranger von der SPD und Manja Schreiner von der CDU. Auch alle Mütter.

Ein gutes Zeichen für den Berliner Senat, oder? Wenn man das mit anderen Bundesländern vergleicht, ist das ein klares Signal, dass Vereinbarkeit bei uns gelebt wird.

Gibt es eine Verbundenheit zwischen Ihnen vier?

Wir schmunzeln manchmal untereinander. Wir sind alle relativ jung Mütter geworden und trotzdem unseren Weg gegangen, wir haben ohne Unterbrechungen weitergemacht. Vielleicht ist das tatsächlich typisch Ostfrau.

Wirkt sich das auf den Politikstil aus?

Ich glaube, uns zeichnet diese Disziplin aus, die Leistungsbereitschaft, der Anspruch an sich selbst. So wie unsere Mütter es uns auch abverlangt haben. Wir sind alle beizeiten als Schlüsselkinder nach Hause gekommen, weil unsere Mamas arbeiten waren. Im Westen gibt es das Wort wahrscheinlich gar nicht: Schlüsselkinder. Es ist jedenfalls nicht positiv besetzt. Für mich aber war es nicht schlimm. Ich bin nach der Schule allein nach Hause gegangen, habe mir Essen warmgemacht und Hausaufgaben erledigt.

Verfolgen Sie Ost-West-Debatten? Haben Sie zum Beispiel das Buch von Dirk Oschmann gelesen?

Ich habe das Buch noch nicht komplett gelesen, aber ich verfolge diese Debatten schon. Ich würde mir wünschen, dass wir den Osten nicht immer so als abgehängt darstellen.

Auch, wenn der Osten strukturell abgehängt war und zum Teil noch ist?

Trotzdem, ich glaube, dass die Entwicklung positiv ist. Man muss deutlich machen, was von den Menschen im Osten geleistet worden ist. Meine Familie hat den Umbruch positiv erlebt. Meine Mutter war Krankenschwester, mein Vater bei der Polizei. Sie konnten weiterarbeiten. Ich kenne aber auch Familien, wo die Eltern schlagartig arbeitslos wurden, was tiefe Verzweiflung hervorgerufen hat. Aber bei allem, was war, würde ich mir wünschen, dass wir nach 35 Jahren mehr zueinander finden. Dass wir nicht im Entweder-oder verweilen, sondern unsere Erfahrungen übereinanderlegen.

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Bildungssenatorin Günther-Wünsch: „Ich würde mir wünschen, dass wir den Osten nicht so als abgehängt darstellen“

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20.04.2024

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Ja, er hat gekocht, gebacken, gewaschen, Fenster geputzt. Alles war gleich aufgeteilt. Ich erinnere mich allerdings nicht daran, dass meine Mutter Reifen gewechselt hat.

Ihre Leistungsbereitschaft ist wirklich auffallend. Im Abgeordnetenhaus schafften Sie es bei der Anzahl der kleinen Anfragen unter die Top 3. Sie haben vier Kinder, sind Senatorin und gerade mal 41. Wie schaffen Sie das alles?

Es war nie mein Plan, auf irgendwelchen Listen ganz oben zu stehen. Aber ich habe den Anspruch, wenn ich etwas übernehme, 150 Prozent zu geben. Ob als Schulleiterin oder als Senatorin. Wenn ich mich entscheide, eine Aufgabe zu übernehmen, möchte ich diese bestmöglich erledigen und eigentlich auch darüber hinaus. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben, schon zu Schulzeiten. Eine Kombination aus Ehrgeiz und Disziplin. Auch beim Leistungssport. Aber ich würde nicht sagen, es gab als Kind den Wunsch, mit 40 Senatorin zu werden.

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Waren Sie in der Schule Klassenbeste?

Ich war die, die am häufigsten beim Direktor gesessen hat.

Weil Sie frech waren?

Zumindest immer am Debattieren und Widersprechen. In meinen Zeugnissen steht: Katharina hat ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis.

Sie haben zwei ältere Brüder. Mussten Sie sich gegen die durchsetzen? Kam das daher?

Gar nicht. Meine Geschwister und ich haben immer zusammengehalten, waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Ich habe einfach Freude am Diskutieren.

Welchen Leistungssport haben Sie als Kind........

© Berliner Zeitung


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