Es wird ein furchtbares Jahr. Im Osten natürlich, in Deutschlands Problemlandesteil. Und in den Debatten über den Osten. Das wurde mir am Neujahrstag klar, als mein Husten nachließ.

Ich habe zum dritten Mal Corona, war aber wieder munter genug, um im Bett auf meinem Handy viele Schlagzeilen zu lesen. Es ging um die Silvesternacht in Berlin, die 4000 Polizisten halbwegs befriedet hatten. Und es ging um das „Schicksalsjahr“, das „politische Beben“, die „Angst vor dem Durchmarsch“, das „Chaos-Szenario“.

Die Wahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen im September waren gemeint. Überall liegt die AfD in den Umfragen vorn. In Sachsen liegt sie inzwischen sogar weit vorn, bei 37 Prozent, die Umfrage war ganz neu. Auf X, vormals Twitter, fragte jemand, wie viele Umfragen es noch bis zur Wahl sind. Ein anderer Nutzer schrieb, in Sachsen sei das Jahr 1940 angebrochen und nicht 2024. Sachsen steckte demnach schon wieder mitten im Zweiten Weltkrieg, und die Wahl ist doch erst im September.

Forsa-Chef zu miesen SPD-Umfragen: Saskia Esken sollte ein „Sachsen-Verbot“ erhalten

•gestern

Gewöhnt Euch an die AfD: Populisten wird es immer geben

31.12.2023

02.01.2024

•gestern

02.01.2024

gestern

gestern

All die Diskussionen, die nun wieder losbrechen werden, rasten durch meinen Kopf. Die Kinderkrippen, das erzwungene Gemeinschaftsgefühl in der DDR, die mangelnde Aufarbeitung! Der merkwürdige Ostdeutsche. Die Demokratieunfähigen. Es wird Videobeweise geben, kurze Clips von Verrückten aus Sachsen. Kurz erwog ich, mich unter meiner Decke zu verkriechen und das Jahr zu verschlafen, bevor mir der nächste Text erklärt, dass ich aus einer Gesellschaft voller Gewalt stamme und man jetzt ja sieht, wozu so etwas führt. Aber das wäre vermutlich typisch ostdeutsch, wieder nicht an Aufklärung interessiert.

Es gibt die Vorstellung, dass man nur lange und kritisch genug über die DDR und den Osten reden muss, dann wird man die AfD-Erfolge verstehen und bekämpfen können. Ich bin mir aber nicht mehr sicher, ob das stimmt. Dabei mache auch ich mir Sorgen wegen der AfD. Die Landesverbände der Partei in Sachsen, Thüringen und Brandenburg oder Teile von ihnen stehen beim Verfassungsschutz unter Verdacht, rechtsextrem zu sein. Auch ich frage mich ernsthaft, wie eine solche Partei so viele Anhänger gewinnen kann.

Wenn ich darüber nachdenke, lande ich aber nicht bei den Kinderkrippen der DDR, sondern bei Donald Trump. Auch in den USA wird in diesem Jahr gewählt, Trump scheint wieder antreten zu wollen und gute Chancen zu haben. In Italien regiert seit zweieinhalb Monaten Giorgia Meloni, die Fan des Faschisten Mussolini ist. Ich denke über die Wähler von Marine Le Pen in Frankreich nach, die von Viktor Orbán in Ungarn. Oder an die Menschen, die in Argentinien gerade Javier Millei zum Präsidenten gewählt haben. Einen Mann, der mit vier geklonten Hunden zusammenlebt und sich „Anarchokapitalist“ nennt. Millei will jetzt, unter anderem, den Verbraucherschutz komplett abschaffen, das Mietrecht lockern und das Versammlungsrecht verschärfen.

Neujahrsansprache: Scholz bittet um Respekt, Neukölln hat den Chat verlassen

31.12.2023

AfD-Verbot: Ostbeauftragter der Bundesregierung spricht sich dagegen aus

gestern

In Frankreich oder den USA ist die Demokratie alt und schien lange stabil, in Argentinien gab es eine Diktatur, blutiger als die der DDR. Ungarn hat wie Ostdeutschland den Sozialismus hinter sich. Und überall sind populistische Politiker erfolgreich, vor allem rechte Populisten. In Indien wird auch gewählt in diesem Jahr, der Premierminister und Nationalist Modi liegt vorn.

Am Neujahrstag machte ich dann noch einen Spaziergang. Debatten über den verkorksten Osten sind wahrscheinlich die deutsche Art, mit der Sorge umzugehen, dachte ich. Ein bedrohliches weltweites Phänomen schnurrt auf fünf Bundesländer und die DDR-Geschichte zusammen. Die Luft war kühl, es regnete leicht. Wenn es dem Westen hilft – dann machen wir das also noch mal ein Jahr lang.

QOSHE - Angst vor der AfD: Lasst uns wieder ein Jahr über die verwirrten Ostdeutschen reden! - Wiebke Hollersen
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Angst vor der AfD: Lasst uns wieder ein Jahr über die verwirrten Ostdeutschen reden!

9 1
04.01.2024

Es wird ein furchtbares Jahr. Im Osten natürlich, in Deutschlands Problemlandesteil. Und in den Debatten über den Osten. Das wurde mir am Neujahrstag klar, als mein Husten nachließ.

Ich habe zum dritten Mal Corona, war aber wieder munter genug, um im Bett auf meinem Handy viele Schlagzeilen zu lesen. Es ging um die Silvesternacht in Berlin, die 4000 Polizisten halbwegs befriedet hatten. Und es ging um das „Schicksalsjahr“, das „politische Beben“, die „Angst vor dem Durchmarsch“, das „Chaos-Szenario“.

Die Wahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen im September waren gemeint. Überall liegt die AfD in den Umfragen vorn. In Sachsen liegt sie inzwischen sogar weit vorn, bei 37 Prozent, die Umfrage war ganz neu. Auf X, vormals Twitter, fragte jemand, wie viele Umfragen es noch bis zur Wahl sind. Ein anderer Nutzer schrieb, in Sachsen sei das Jahr 1940 angebrochen und nicht 2024. Sachsen steckte demnach schon wieder mitten im Zweiten Weltkrieg, und die Wahl ist doch........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play