An dem Tag, an dem Joachim K. von seinem eigenen Tod erfuhr, fühlte er sich frisch und gesund. Es war November, er stand mit seiner Frau in einer Filiale der Berliner Sparkasse. Er war 83 Jahre alt, man sah es ihm nicht an. Vielleicht lief die Bankangestellte, die ihm die schlechte Nachricht überbringen musste, auch deshalb „puterrot“ an.

An ihre Gesichtsfarbe erinnert sich Herr K. noch genau. Auch daran, wie sie ihm sagte, sie müsse dringend eine Kollegin holen.

Seine Beunruhigung nahm zu. Er war in die Filiale gekommen, weil ein Bankautomat am Tag zuvor seine Karte eingezogen hatte. Ohne Vorwarnung. Herr K. hatte weder sein Konto überzogen noch seine Geheimzahl falsch eingegeben. In beidem war er sich hundertprozentig sicher. Trotzdem war die Karte weg. Auf dem Bildschirm des Automaten hatte etwas von einem „technischen Fehler“ gestanden. Von einer Hotline der Sparkasse, die er gleich darauf angerufen hatte, wurde er in die Filiale geschickt. In der Filiale hatte die Bankangestellte in ihren Computer und dann auf sein Gesicht geschaut, bevor sie davon gestürzt war.

Berliner Sparkasse kündigt 17.000 Kunden

15.02.2023

Als sie mit der Kollegin zurückkam, sagte die Bankangestellte erst: „Es ist nichts Schlimmes.“ Dann aber: „Eigentlich sind Sie gestorben.“ Sie hatte es schriftlich und wedelte mit einem Haufen Papier in der Hand. Sie nannte ihm seinen Todestag. Das Datum lag knapp drei Wochen zurück. Auch die zweite Angestellte der Bank war rot im Gesicht. Beide Frauen sagten, dass ihnen so etwas noch nie passiert sei. Joachim K. war ihr erster lebendiger Toter.

Sein Konto war jedenfalls gesperrt, und obwohl die Frauen ihm durchaus glaubten, dass er noch existierte, sagten sie, dass sie an der Sperre nichts ändern könnten. Die Frauen sagten den Satz, der in Deutschland viele Diskussionen schnell beendet: Es ist nicht unser Fehler. Es habe eine Meldung an die Bank gegeben. Ein Tod im System war mächtiger als ein lebendiger Kunde in der Filiale.

•gestern

08.02.2024

07.02.2024

gestern

•gestern

Herr K. bekam einen Ausdruck, auf dem sein „Sterbedatum“ vermerkt war, außerdem eine „Rückforderung“ der Rentenversicherung, die bereits eingegangen war. Joachim K. erfuhr, dass er nicht nur offiziell tot war, sondern plötzlich auch verschuldet, weil die Deutsche Rentenversicherung mehr Geld von seinem Konto zurückverlangt hatte, als dort vorhanden war. Von einem Überziehungskredit war die Rede. Herr H. hatte weitere Konten, zum Sparen, die glücklicherweise von seinem Tod nicht betroffen waren. Zum Abschied bekam er in der Filiale ein kleines Souvenir.

Joachim K. erzählt die Geschichte in seiner Wohnung in Berlin-Mitte. Es ist Anfang Januar, durch die Fenster fällt die Berliner Wintersonne, an den Wänden hängen Gemälde, die seine Frau nach berühmten Vorlagen malt, Hopper, Picasso. Auf dem Tisch stehen Kaffee und Kekse. Joachim K. ist inzwischen 85. Er trägt einen hellblauen Pulli über einem Hemd, eine Brille, sein Haar ist voll. Man könnte ihn für zehn Jahre jünger halten. Er heißt eigentlich anders. Er hat an die Berliner Zeitung geschrieben, weil er seinen eigenen Tod für kurios hält. Ihm habe die Frau in der Sparkasse leidgetan. Aber er habe sich auch gefragt, „warum die so stur nach Vorschrift gehen, ich lebe ja schließlich noch“.

Seine Frau sagt, ihr falle es weiterhin schwer, das Ganze mit Humor zu nehmen, auch wenn ihr Mann inzwischen offiziell wieder unter den Lebenden weilt. Das sei alles eine ziemliche Aufregung gewesen, sagt sie, „ein dunkles Loch“. Ihr Mann konnte wochenlang kein Geld abheben. Was, wenn das einem Menschen passiert wäre, der allein lebt, fragt sie sich, der vielleicht gesundheitlich angeschlagen ist?

Sie war es auch, die nach dem Besuch in der Sparkassenfiliale sofort beim Einwohnermeldeamt anrief, um zu erfahren, was mit den Daten ihres Mannes geschehen war, und sich nicht abwimmeln ließ. Die erste Frau, die sie dort erreichte, sei ziemlich schroff gewesen. Sie habe sich weiterverbinden lassen, schließlich habe sich eine junge Mitarbeiterin des Falls angenommen und gesagt, sie werde nicht ruhen, bis sie herausgefunden habe, wer der Schuldige sei. Ein Satz, den man auf einem Berliner Amt nicht unbedingt erwartet. Die Frau bot außerdem an, einen „Identitätsnachweis“ für Herrn K. auszustellen. Als Beweis, dass es ihn gibt.

Sein Tod im System wirkte sich vor allem finanziell aus. Nach der Rente wurde Herrn K. auch noch eine kleine Zusatzrente vom nicht mehr gedeckten und für ihn gesperrten Konto abgezogen, seine Schulden wuchsen. Und auch der „Beitragsservice“ von ARD und ZDF meldete sich erstaunlich schnell, die Gebühreneinzugszentrale GEZ, die offiziell nicht mehr so heißt. In einem Brief an die „Familie K.“ wollte sie herausfinden, wer nun, da Herr K. verstorben sei, die Fernseh- und Rundfunkgebühr für die Wohnung bezahlen werde.

Geschichte eines Berliner Rentners: Wie soll man mit 950 Euro monatlich leben?

30.01.2024

Das Ehepaar K. wunderte sich, wie zügig das ging. Als kürzlich ein Bekannter von ihnen gestorben sei, habe die Witwe ewig auf die Sterbeurkunde gewartet, weil die Ämter in Berlin so überlastet sind. Wer selbst schon einen Todesfall in der Familie hatte, weiß, wie wichtig diese Urkunde ist. Ohne offizielle Bescheinigung kann man den Verstorbenen nicht bestatten – und keinen Vertrag lösen, keine Versicherung kündigen, keine Vereinsmitgliedschaft beenden. Bank, Finanzamt, Krankenkasse, Stromanbieter wollen die Urkunde sehen, gern als beglaubigte Kopie. Es ist aufwendig, einen Toten aus den Vertragsschlingen des Lebens zu lösen. Eigentlich.

Die Frau vom Einwohnermeldeamt rief zurück, wie sie es versprochen hatte. Sie hatte den Schuldigen ausgemacht. Allerdings nicht in der eigenen Behörde oder in einem der überarbeiteten Berliner Bürgerämter, auf die man getippt hätte. Sondern außerhalb der Stadt. Das Standesamt einer Kleinstadt im Norden von Berlin habe Herrn K. als verstorben gemeldet, teilte sie mit. Ein weiteres Rätsel.

„Ich war noch nie in New York, und ich war noch nie in dieser Kleinstadt“, sagt Joachim K. Vielleicht sei er mal durchgefahren? Gehalten habe er jedenfalls nicht. Er sei in Berlin geboren und nie woanders gemeldet gewesen. Zu DDR-Zeiten habe er deshalb sogar mal Probleme bekommen. Weil er sich nicht umgemeldet hatte, als er außerhalb von Berlin studierte, hatte ihn das Wehrkreiskommando, das ihn zur Armee einziehen wollte, nicht erreicht.

Warum Berliner wochenlang auf Sterbeurkunden warten müssen

31.01.2023

Beim Standesamt der Kleinstadt im Berliner Norden bekennt man sich auf Nachfrage schnell dazu, tatsächlich schuld zu sein. Es hat dort eine Verwechslung gegeben, die so heikel ist, dass man über sie nur berichten kann, ohne den Namen der Kleinstadt zu nennen. Und den richtigen Namen von Herrn K.

In der Kleinstadt hat seine erste Ehefrau gelebt. Die Ehe ist so lange her, der Kontakt seit Jahrzehnten abgebrochen, dass Herr K. weder von ihrem Umzug in die Stadt erfahren hat noch von ihrem Tod. Aber über amtliche Dokumente waren die beiden noch immer verbunden. Um eine Sterbeurkunde zu bekommen, muss man Heiratsurkunden und Scheidungsurteile einreichen. Wenn vorhanden.

Als im Standesamt der Kleinstadt der Tod der geschiedenen Frau K. in das System eingegeben werden sollte, machte eine Mitarbeiterin einen Fehler. Sie meldete die falsche Person als verstorben: nicht Frau, sondern Herrn K. Eine automatische Meldung machte sich auf den Weg zu drei anderen Ämtern: dem Melderegister, dem Geburtsstandesamt von Herrn K., seinem Finanzamt. Als die Frau im Standesamt den Fehler ein paar Stunden später bemerkte, versuchte sie sofort, die Meldung rückgängig zu machen. Sie rief sogar in Berlin an, im Wissen, dass dort in den Ämtern alles etwas länger dauert, und auch in der Hoffnung, dass die Meldung vielleicht noch aufzuhalten wäre. In diesem Fall aber „hatte Berlin schon seine Arbeit gemacht“, wie eine Sprecherin aus dem Rathaus der Kleinstadt sagt.

Im Namen des gesamten Standesamts richtet sie Herrn K. aus: „Es tut uns wirklich leid.“ Wenn Probleme oder Unkosten entstanden seien, solle er sich in der Kleinstadt melden.

Danke, sagt Herr K., als er davon hört. Er habe vielleicht dreißig Euro eingebüßt, nachdem sein Konto wieder freigegeben und die Renten zurückgezahlt waren. Und einige Nerven. Er bewundere seine Frau, die für ihn viel herumtelefoniert habe, um ihn auch amtlich wieder ins Leben zurückzuholen, sagt er. Auf eine Entschädigung verzichte er gern.

QOSHE - „Eigentlich sind Sie gestorben“: Wie ein Berliner von seinem eigenen Tod erfuhr - Wiebke Hollersen
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

„Eigentlich sind Sie gestorben“: Wie ein Berliner von seinem eigenen Tod erfuhr

138 1
10.02.2024

An dem Tag, an dem Joachim K. von seinem eigenen Tod erfuhr, fühlte er sich frisch und gesund. Es war November, er stand mit seiner Frau in einer Filiale der Berliner Sparkasse. Er war 83 Jahre alt, man sah es ihm nicht an. Vielleicht lief die Bankangestellte, die ihm die schlechte Nachricht überbringen musste, auch deshalb „puterrot“ an.

An ihre Gesichtsfarbe erinnert sich Herr K. noch genau. Auch daran, wie sie ihm sagte, sie müsse dringend eine Kollegin holen.

Seine Beunruhigung nahm zu. Er war in die Filiale gekommen, weil ein Bankautomat am Tag zuvor seine Karte eingezogen hatte. Ohne Vorwarnung. Herr K. hatte weder sein Konto überzogen noch seine Geheimzahl falsch eingegeben. In beidem war er sich hundertprozentig sicher. Trotzdem war die Karte weg. Auf dem Bildschirm des Automaten hatte etwas von einem „technischen Fehler“ gestanden. Von einer Hotline der Sparkasse, die er gleich darauf angerufen hatte, wurde er in die Filiale geschickt. In der Filiale hatte die Bankangestellte in ihren Computer und dann auf sein Gesicht geschaut, bevor sie davon gestürzt war.

Berliner Sparkasse kündigt 17.000 Kunden

15.02.2023

Als sie mit der Kollegin zurückkam, sagte die Bankangestellte erst: „Es ist nichts Schlimmes.“ Dann aber: „Eigentlich sind Sie gestorben.“ Sie hatte es schriftlich und wedelte mit einem Haufen Papier in der Hand. Sie nannte ihm seinen Todestag. Das Datum lag knapp drei Wochen zurück. Auch die zweite Angestellte der Bank war rot im Gesicht. Beide Frauen sagten, dass ihnen so etwas noch nie passiert sei. Joachim K. war ihr erster lebendiger Toter.

Sein Konto war jedenfalls gesperrt, und obwohl die Frauen ihm durchaus glaubten, dass er noch existierte, sagten sie, dass sie an der Sperre nichts ändern könnten. Die Frauen sagten den Satz, der in Deutschland viele Diskussionen schnell beendet: Es ist nicht unser Fehler. Es habe eine Meldung an die Bank gegeben. Ein Tod im System war mächtiger als ein lebendiger Kunde in der Filiale.

•gestern

08.02.2024

07.02.2024

gestern

•gestern

Herr K. bekam einen Ausdruck, auf dem sein........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play