Alles ist Musik auf diesem Hof des katholischen Kollegiums St. Ignazio nahe Venedig im Jahre 1800. Ein stummes Aschenputtel namens Teresa (Galatéa Bellugi) schrubbt – scht, scht, scht-scht-scht – einen Kupferkessel, eine andere Magd fegt im Rhythmus das Stroh, Wäscherinnen klatschen nasse Laken auf abgewetzten Marmor, schön auch die Geräusche, die beim Ausschütteln der trockenen Tücher entstehen. Jemand pikt sich in den Finger, um an der passenden Stelle eine „Autsch“-Synkope zu setzen, Fleisch wird geklopft, ein Hackmesser zerkleinert in akkuraten Triolen Wurzel- und Stangengemüse für die Bolognese – und aus den offenen Fenstern der Musikschule für Waisenmädchen erschallen Sanges- und Fiedeletüden. Es raschelt, puckert, klingt, scheppert, schwillt und spritzt.

Die Eröffnungssequenz des Wettbewerbsfilms „Gloria!“ endet mit einem trockenen Dämpfer. Die stahlstrenge Aufseherin versetzt Teresa eine Kopfnuss und treibt sie zur Arbeit an. Diese Kopfnuss ist in diesem sahnigen historischen Kostümfilm-Melodram der 1988 geborenen Schauspielerin, Musikerin und Regiedebütantin Margherita Vicario der einzige fettfreie Moment. Abgesehen von einigen Buhs bei der Pressevorführung. (Fürs Protokoll: Geklatscht wurde auch.)

Man könnte meinen, dass eine feministische Geschichte, in der mittellose junge Frauen unter widrigen und ungerechten Umständen heimlich ihre geistige und kreative Begabungen entfalten, über alte weiße Männer triumphieren und sich aus paternalistischen Zwängen befreien, irgendwie auch die ästhetischen Konventionen auffrischen würde. Aber nichts dergleichen. Stattdessen: reaktionäre und biedere Klischees von blonder Unschuld mit Grübchen, von euphorisch-liebreizendem Augentränenglanz, pulsierenden Dekolletees in sphärischer Verzückung und ungewaschener Niedertracht, heterosexistisch dekoriert mit einem flatterhaften Countertenor, der sich vom sündigen Priester und Kapellmeister Perlina (Paolo Rossi) für Liebesdienste bezahlen lässt.

Perlina hat es aber auch wirklich nicht leicht. Der Gouverneur macht Druck, weil der frisch in Venedig inaugurierte Papst Pius VII. seinen Besuch in der Gemeinde angekündigt hat. Da können Chor und Orchester der Waisen nicht die üblichen barocken Perlina-Kadenzen runterleiern. Der Komponist solle St. Ignazio keine Schande machen. Die Schaffenskrise ist programmiert: Da sitzt Perlina gebeugt und keuchend am verstimmten Cembalo, klimpert rum, wartet auf Inspiration, kratzt lustlos ein paar Noten aufs Papier, das er sodann, natürlich, zerknüllt und verzweifelt zu Boden wirft. Wertvolles Notenpapier auf meisterlich patinierten Holzdielenboden, in seidenem Licht.

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19.02.2024

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Derweil versammeln sich die Mädchen in den stimmungsvollen Kellergewölben bei Kerzenschein um ein verstecktes Pianoforte, die milde Gabe eines entzückten Klavierbauers. Sie rauchen, lesen einander Gedichte vor und – das musste ja so kommen – musizieren. Das heißt, sie tragen kleine Richtungskämpfe aus. Die verliebte Lucia (Carlotta Gamba) spielt mit geschickten Fingern sehr kundige Melodien nach dem Geschmack der Zeit, schließlich ist sie die Erste Geige im Orchester. Unsere leidgeprüfte Teresa aber, die den ganzen Tag niedere Verrichtungen zugemutet bekommt und ein Geheimnis mit sich herumträgt, drückt mit ihren schwarzen Fingernägeln immer dieselben Tasten, um – oh Wunder der impulsiven Repetition und aufgelösten Dissonanz! – die tief im Rückenmark verdrahteten Stromkreise zu reizen.

Das ergibt in alternierenden Sequenzen einen Soundtrack, der seine Harmoniesucht schon lange nicht mehr unter Kontrolle kriegt. Überhaupt ist Margherita Vicario, die zusammen mit Davide Pavanello auch die Musik zusammengesteckt hat, unerschrocken, was Schnulz- und Zuckereffekte angeht, die ja in allen Musikepochen zu finden sind. Das geht von gedämpftem Technogeblubber über Musicalbausätze mit tribalen Anleihen bis hin zu gelackten Balladen à la Eros Ramazzotti. Dieses Potpourri reißt alte, schwer verheilte Geschmacksverletzungen wieder auf, die etwa von Formationen wie Rondò Veneziano herstammen, die in den 1980er-Jahren in keiner TV-Show fehlen durften und Goldene Schallplatten mit durchkalkulierten Barockverschnitten samt Puderperücken, E-Gitarre und Schlagzeug einkassierten.

Ob das Ganze gut ausgeht, soll und muss nicht verraten werden. Dass die Handlung aber auch noch in die Bergwelt der Alpen führt und zu allem süßlichen Übel noch entsprechende Panoramakulissen ausrollt, das muss erwähnt werden, um vor unausbleiblichen Wirkungen auf unvorbereitete Zuschauergemüter und -mägen zu warnen. Was für ein vielfältiger (oder doch grenzenlos beliebiger) Berlinale-Wettbewerb, der eine solche Torte von Film mit dem geduldsfadenzerschleißenden Nilpferd-Hardcore-Kunstfilm „Pepe“ miteinander konkurrieren lässt!

Berlinale Wettbewerb: Gloria! 21., 22., 23., 25. Februar auf der Berlinale. Kinos, Karten und Informationen unter www.berlinale.de

QOSHE - Wie der Berlinale-Film „Gloria!“ den Blutzuckerspiegel steigen lässt - Ulrich Seidler
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Wie der Berlinale-Film „Gloria!“ den Blutzuckerspiegel steigen lässt

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21.02.2024

Alles ist Musik auf diesem Hof des katholischen Kollegiums St. Ignazio nahe Venedig im Jahre 1800. Ein stummes Aschenputtel namens Teresa (Galatéa Bellugi) schrubbt – scht, scht, scht-scht-scht – einen Kupferkessel, eine andere Magd fegt im Rhythmus das Stroh, Wäscherinnen klatschen nasse Laken auf abgewetzten Marmor, schön auch die Geräusche, die beim Ausschütteln der trockenen Tücher entstehen. Jemand pikt sich in den Finger, um an der passenden Stelle eine „Autsch“-Synkope zu setzen, Fleisch wird geklopft, ein Hackmesser zerkleinert in akkuraten Triolen Wurzel- und Stangengemüse für die Bolognese – und aus den offenen Fenstern der Musikschule für Waisenmädchen erschallen Sanges- und Fiedeletüden. Es raschelt, puckert, klingt, scheppert, schwillt und spritzt.

Die Eröffnungssequenz des Wettbewerbsfilms „Gloria!“ endet mit einem trockenen Dämpfer. Die stahlstrenge Aufseherin versetzt Teresa eine Kopfnuss und treibt sie zur Arbeit an. Diese Kopfnuss ist in diesem sahnigen historischen Kostümfilm-Melodram der 1988 geborenen Schauspielerin, Musikerin und Regiedebütantin Margherita Vicario der einzige fettfreie Moment. Abgesehen von einigen Buhs bei der Pressevorführung. (Fürs Protokoll: Geklatscht wurde auch.)

Man könnte meinen, dass eine feministische Geschichte, in der mittellose........

© Berliner Zeitung


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