Wo waren wir stehen geblieben? Schlechte Welt, Selbsthass, Krankheit. Das Traumpaar der Welt-, Gegenwarts- und vor allem Selbstbejammerung – der Regisseur und Theaterleiter René Pollesch und der Schauspielkünstler Fabian Hinrichs – dreht die nächste Runde. Mein Gott, sind wir alle alt. Mit dem Open-Air-Prater-Spiel „Der perfekte Tag“ war vor fast fünfzehn Jahre der Zustand der Vollendung erreicht, 2015 ging es in der Volksbühne mit „Kill your Darlings“ an die Grenzen der Selbstüberschätzung, der „Glauben an die Möglichkeit einer völligen Veränderung der Welt“ ist 2019 im Friedrichsstadt-Palast begraben worden und dann, in der wiedergewonnenen und in den Corona-Lockdowns zerfallenen Volksbühne, rieben wir uns müde die Wunden und fragten uns „Geht es dir gut?“

Nein, es ging uns nicht gut. Und heute, fast zwei Jahre später, geht es uns noch viel schlechter. Das Durchhaltevermögen ist aufgebraucht, Krieg, Terror, Niedergang stampfen voran, wir reparieren und basteln nur noch aus Gewohnheit an unserer bürgerlichen Existenz herum, die Zähne, die Knochen, die Haare, das Geld, der Bauch, die Libido, der Ärger mit den KI-gesteuerten Geräten, das Gesülze der sozialen und konventionellen Medien. Das Schlimmste an alledem ist vielleicht die Scham über diese Rolle des erschlaffenden und privilegierten Kohlendioxidproduzenten mit seinen Launen, Gebrechen, Ängsten und seinem Haufen an unreflektierten Erfahrungen aus früher Kindheit.

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vor 2 Std.

Umso heldenhafter ist das, was Hinrichs und Pollesch nun mit „Ja nichts ist ok“ weiterführen und auf eine neue Höhe der Sanftheit heben. Es gibt sogar Dialoge! Ein Fabian Hinrichs spielt uns eine ganze in ihren Lebensentwürfen steckengebliebene Wohngemeinschaft, die vielleicht noch ein paar Zwischenstationen in Ferienwohnungen macht, bevor sie ins betreute Wohnen hinüberreift. Die Örtlichkeit passt allemal: ein holzvertäfelter Bungalow von Anna Viebrock, mit Klinkern in Sechziger-Jahre-Gelb, neben aufgetürmten Findlingen und einem kleinen Pool.

Auch die Erzähl- und Reflexionsebene übernimmt Hinrichs – alles in der angebrachten Mattigkeit, kaum jemals über die technische Andeutung hinausgehend, immer nur halb die Rollenkostüme wechselnd und sich in den umgekrempelten Ärmeln verfangend, dann aber in Momenten restlos zugewandt, brennend vor Verzweiflung und überlaufend vor schäumender leerer Liebe. Hört auf, euch zu schämen, geht in die Volksbühne, trefft auf den Trost der geteilten Kraftlosigkeit!

•vor 15 Min.

•vor 5 Std.

gestern

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heute

Wenn man zuletzt immer häufiger in diesem Theater als ein eingeschüchtertes Fragezeichen im weltabgewandten Überbietungsbrainstorm von Hochkunstrecken herumsaß, öffnet sich die Bühne diesmal erzählerisch ganz entspannt für die Identifikation. Klar wird man auch beschimpft, aber nur so, dass man sich als Beschimpften wiedererkennt, als Verstoßenen, Unzureichenden, als einen depressiven, blutenden, puckernden Vergeblichkeitsnippel im Eissturm der Realität. Kann es sein, dass man sogar ein bisschen Schuld dalässt, wenn man das Theater nach dieser 70-Minuten-Andacht wieder verlässt und kühn lächelnd in den unfreundlichen Februarregen tritt? Ah, ihr Nieseltropfen, kommt, mischt euch mit den kleinen Tränchen! Hier darf ich mal einen Moment lang mein mickriges Leid leiden, auch wenn es vielen so viel schlimmer geht.

Der Nahost-Konflikt muss gar nicht erwähnt werden, es reicht, wenn sich die Wohngemeinschaft mal kurz politisch in die Quere kommt, Positionen äußert, Bekenntnisse abverlangt, Quellen hinterfragt. Daneben kleckert der Streit um Sauberkeit, um den Zugang zum Bad, die Zumutungen von Angewohnheiten der anderen. „Oh, oh“, sagt Hinrichs, der Erzähler, „das war bisher kein schöner Tag in der WG, oder? Mal sehen, wie es weitergeht.“

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Man sieht ja gleich in der ersten Szene, dass es in Mord und Totschlag endet: Da schreit einer um Hilfe, wird in den Pool gestoßen, bespuckt und erstochen. In allen Rollen: Fabian Hinrichs, der sich da selbst unter Wasser drückt und an den Haaren zieht und winselt und zusticht und bettelt und schneidet und stirbt. Wir sind es selbst, die uns kaputt machen. Sogar damit sind wir allein.

Blau ist die Nacht, der Vollmond leuchtet. So schön! Und still! Auch über das sonst so verkicherte Volksbühnenpublikum breitet sich ein leichtes, sauberes Schweigen. Ganz eng schließt sich der Raum um einen, ganz nah rückt man in der Dunkelheit zusammen. Atem geht. Es quietscht und raschelt noch ein bisschen im WG-Klappbett. Einer von uns kann nicht schlafen und verliert seinen Willen, seine Kraft, seine Lust und wiegt uns in einer Litanei. „Ich hasse das hier ... Ich hasse, was ich brauche ... Ich hab mich satt ... Ich sterbe in Einsamkeit und Scheiße ... Ich hasse es, wenn wir im Krieg sind ... Ich hasse jeden Streit über den Krieg.“

Was darf man da antworten? Keiner antwortet. Zumindest kein Mensch. Aber dann spricht doch etwas: „Das Leben ist lebenswert, und da draußen gibt es Hilfe für dich. Wenn du nicht mehr leben willst, kontaktier einen Freund oder Verwandten oder such dir professionelle Hilfe.“ Es ist der Kühlschrank, der da spricht und uns mitten in der Nacht vom Selbstmord abhält. Man niest und trägt eine Erkältung wie einen Schatz davon.

Ja nichts ist ok. 15., 25. Februar, 9., 23. März in der Volksbühne, Karten unter Tel.: 24065777 oder unter www.volksbuehne.berlin

QOSHE - Nähe im Dunkeln: Pollesch und Hinrichs mit „Ja nichts ist ok“ in der Volksbühne - Ulrich Seidler
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Nähe im Dunkeln: Pollesch und Hinrichs mit „Ja nichts ist ok“ in der Volksbühne

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12.02.2024

Wo waren wir stehen geblieben? Schlechte Welt, Selbsthass, Krankheit. Das Traumpaar der Welt-, Gegenwarts- und vor allem Selbstbejammerung – der Regisseur und Theaterleiter René Pollesch und der Schauspielkünstler Fabian Hinrichs – dreht die nächste Runde. Mein Gott, sind wir alle alt. Mit dem Open-Air-Prater-Spiel „Der perfekte Tag“ war vor fast fünfzehn Jahre der Zustand der Vollendung erreicht, 2015 ging es in der Volksbühne mit „Kill your Darlings“ an die Grenzen der Selbstüberschätzung, der „Glauben an die Möglichkeit einer völligen Veränderung der Welt“ ist 2019 im Friedrichsstadt-Palast begraben worden und dann, in der wiedergewonnenen und in den Corona-Lockdowns zerfallenen Volksbühne, rieben wir uns müde die Wunden und fragten uns „Geht es dir gut?“

Nein, es ging uns nicht gut. Und heute, fast zwei Jahre später, geht es uns noch viel schlechter. Das Durchhaltevermögen ist aufgebraucht, Krieg, Terror, Niedergang stampfen voran, wir reparieren und basteln nur noch aus Gewohnheit an unserer bürgerlichen Existenz herum, die Zähne, die Knochen, die Haare, das Geld, der Bauch, die Libido, der Ärger mit den KI-gesteuerten Geräten, das Gesülze der sozialen und konventionellen Medien. Das Schlimmste an alledem ist vielleicht die Scham über diese Rolle des erschlaffenden und privilegierten Kohlendioxidproduzenten mit seinen Launen, Gebrechen, Ängsten und seinem Haufen an unreflektierten Erfahrungen aus........

© Berliner Zeitung


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