Es gibt keine Wände in dieser Wohnung. Arbeitszimmer, Wohnzimmer, Küche, Klo, Garten treiben wie ein kleines Archipel auf einer Wasserfläche. Aufgelöst sind die Räume und die Grenzen nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zum Publikum. Aufgelöst werden soll auch die Grenze zwischen Wirklichkeit und Text. Es geht um „die Bekämpfung der Fiktion mit Fiktion“.

Wir sind im Berliner Ensemble bei der Premiere von „Sterben Lieben Kämpfen“ von Karl Ove Knausgård. Yana Ross hat eine 40-seitige Textfassung aus dem 4000-seitigen Original erstellt, das als „Min Kamp“ in sechs Bänden zwischen 2009 und 2011 in Norwegen erschienen ist und das ganze Land, später unter anderem auch Deutschland, teilhaben ließ an den Kämpfen eines Mannes um die vierzig mit dem Alltag, mit der Liebe und mit der Sinn- und Freudlosigkeit des Daseins. Alles mit Klarnamen, ohne Rücksicht auf Privatsphäre, ohne verfälschende Kunstmühe, sondern so direkt, ehrlich und subjektiv wie es nur gehen mag.

„Min Kamp“ heißt das Monstrum, das in Deutschland freilich unter anderem Titel erschienen ist, nicht zufällig. Der Autorheld findet im Nachlass seines Großvaters Hitlers autobiografisches Kampfprogramm und darin ausgerechnet sein literarisches Ideal: Es habe sich ein erstickendes, ekelerregendes Gefühl eingestellt, „als ich Hitlers Worten und Gedanken Zugang zu meinem Bewusstsein gewährte und sie eine Weile ein Teil davon werden ließ“.

Warum es ausgerechnet diese Worte und Gedanken sein mussten, könnte mit dem Willen Knausgårds zu tun haben, den narzisstischen Selbsthass bis zum Grund auszuleuchten und sogleich die Obszönität dieses Tuns zu verdeutlichen. Dass in der Folge an diesem Abend die „Todesfuge“ von Paul Celan gegen Hitlerzitate geschnitten wird, das ist in seiner Unerschrockenheit schon schwer auszuhalten.

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29.02.2024

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Gabriel Schneider spielt den Autor und Helden mit Drang und offener Seele, was vergeblich ist, weil das Geschehen sofort im Text gefriert. Dies dürfte sowohl das Projekt als auch das Problem von Karl Ove sein, dem der unmittelbare Kontakt zum Leben und zu seinen Leuten verloren geht, der alles auf Abstand bringt, gegenüber seinem Ego verkleinert und entwertet – immer mit einem tapfer-verzweifelten, pseudotragischen Grundton der Zermürbung.

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Wie in einem Wimmelbild schaut man auf die zu Figuren reduzierten und bloßgestellten Angehörigen – Frau, Vater, Bruder, Lektor und die Kinder, die an diesem Abend und in der Wahrnehmung ihres ich-bezogenen Vaters hinreichend von Zimmerpflanzen verkörpert werden. Dass die Auseinandersetzungen mit Linda (Kathleen Morgeneyer) über die Aufteilung der Haus- und Care-Arbeit die Szenen mit der größten dramatischen Höhe sind und in ihrer Spannung zwischen Liebe und Hass tatsächlich ergreifen, holt uns in unserem Alltag und im Kampf mit unseren sozialen Rollen ab. Was man als lästig und nebensächlich in seinem Leben nebenher zu bewältigen versucht, erhält so einen heroischen Glanz und den Schauder des Untergangs. Vielen Dank auch.

Sterben Lieben Kämpfen 16., 17., 26., 27. März im Berliner Ensemble, Karten und Anfangszeiten unter Tel.: 28408115 oder www.berliner-ensemble.de

QOSHE - Haushaltsheld und Hitlerversteher: Das Berliner Ensemble dramatisiert Karl Ove Knausgård - Ulrich Seidler
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Haushaltsheld und Hitlerversteher: Das Berliner Ensemble dramatisiert Karl Ove Knausgård

22 30
02.03.2024

Es gibt keine Wände in dieser Wohnung. Arbeitszimmer, Wohnzimmer, Küche, Klo, Garten treiben wie ein kleines Archipel auf einer Wasserfläche. Aufgelöst sind die Räume und die Grenzen nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zum Publikum. Aufgelöst werden soll auch die Grenze zwischen Wirklichkeit und Text. Es geht um „die Bekämpfung der Fiktion mit Fiktion“.

Wir sind im Berliner Ensemble bei der Premiere von „Sterben Lieben Kämpfen“ von Karl Ove Knausgård. Yana Ross hat eine 40-seitige Textfassung aus dem 4000-seitigen Original erstellt, das als „Min Kamp“ in sechs Bänden zwischen 2009 und 2011 in Norwegen erschienen ist und das ganze Land, später unter anderem auch Deutschland, teilhaben ließ an den Kämpfen eines Mannes um die vierzig mit dem Alltag, mit der Liebe und mit der Sinn- und Freudlosigkeit des Daseins. Alles........

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