Das Publikum im Admiralspalast tobt. Hände werden in die Luft gerissen, lautes Pfeifen schalt durch den hell erleuchteten Saal. Eine Frau öffnet ihren Mund, legt den Kopf in den Nacken und fängt an zu kreischen. Weitere Zuschauer schließen sich an. Die Stimmung ist aufgeheizt. Kein Wunder, denn das Publikum wird Zeuge der Deutschlandpremiere des Musicals „Six“.

Für einen Augenblick, so kurz wie ein Wimpernschlag, wird es ruhiger im Saal. Unter einem tiefschwarzen Vorhang, der das Innere der Bühne verhüllt, quillt dicker Rauch hervor. In Richtung Zuschauerraum. Der Vorhang fällt und sechs Frauen betreten die Bühne. Zwei von ihnen wurden geköpft, eine ist gestorben, zwei wurden geschieden und eine hat überlebt.

An diesem Abend wird Geschichte geschrieben, im wahrsten Sinne des Wortes. Das britische Musical „Six“ wird zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne aufgeführt. Aber auch die Storyline der 90-minütigen Musikshow hat bereits Geschichte geschrieben. Sie ist nicht frei erfunden, sondern basiert auf den Liebes- und Lebensgeschichten des englischen Königs Heinrich VIII.

Der König war vor allem ein Frauenheld. Er verliebte sich unzählige Male, wechselte seine Frauen wie andere ihre Kleidung. Sechs von ihnen heiratete er – Katharina von Aragon, Anne Boleyn, Jane Seymour, Anna von Kleve, Catherine Howard und Catherine Parr. Sie alle stehen nun auf der Bühne und klagen den Zuschauern ihr Leid. Denn Heinrich VIII. mag vieles gewesen sein, aber mit Sicherheit kein guter Ehemann.

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11.03.2024

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Von seiner ersten Frau ließ er sich scheiden. Die Zweite wurde geköpft. Die Dritte ist nach der Geburt ihres Kindes gestorben. Ehefrau Nummer vier entsprach auch nicht seinen Vorstellungen – und so ließ er sich wieder scheiden. Die fünfte Ehefrau wurde ebenfalls geköpft und nur die sechste und letzte Frau an der Seite des Königs überlebte dessen Tod.

Eine brutale Geschichte. Doch die Erfinder des Musicals, Toby Marlow und Lucy Moss, haben den Ereignissen aus der Vergangenheit einen ganz neuen Dreh verpasst. Die Darstellerinnen tragen keine schweren Roben und weißen Perücken. Ihre Minikleidchen und Hosenanzüge sind pink, rot und blau. Catherine Howard hat beispielsweise lange pinke Haare, die sie während ihrer Tanzeinlagen wild hin und her schwingt. Die sechs Frauen sind humorvoll, selbstbewusst und vor allem selbstbestimmt.

Und noch eine Änderung bauen die Musical-Erfinder ein: Die Ex-Frauen des Königs treffen aufeinander, weil sie eine Band gründen wollen. Das Problem – jede von ihnen will den Ton angeben. Ein musikalischer Schlagabtausch, in dem jede Ex-Frau des Königs ihre Ehe Revue passieren lässt, soll dieses Problem lösen. Wer am meisten gelitten hat, der gewinnt.

Es folgen sechs Solos. Erst zwei Popsongs, dann eine Ballade, gefolgt von Rap und Technobeats. Das Niveau der Gesangsdarbietungen ist unglaublich. Jede Darstellerin performt auf ihre eigene Art und Weise. Still wird es nie, auch nicht in den kurzen Unterbrechungen zwischen den Songs. Denn dann applaudiert das Publikum – minutenlang.

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Wie zu erwarten, werden sich die Frauen trotz des Gesangwettbewerbs nicht einig. Nach einer kurzen Diskussion stellt das Sextett fest, dass sie sich lange genug mit Heinrich dem VIII. und seinen Liebschaften befasst haben. Ganz nach dem Motto „Eine für alle und alle für eine“ performen die Frauen einen gemeinsamen Song. Die Geschichte ist erzählt und die Botschaft „Liebe dich selbst“ ist auch beim allerletzten Besucher angekommen.

„Six“ ist ein besonderes Musical. Das Besondere liegt nicht in der tragisch-komischen Geschichte, den schrillen Kostümen oder an den modernen Beats. Alle Elemente zusammen transportieren eine außergewöhnliche Stimmung. Von der ersten bis zu letzten Sekunde wurde das Publikum mitgerissen. Unter Kreischen, Pfeifen und Standing Ovations verlassen die Darstellerinnen die Bühne. Ein voller Erfolg.

QOSHE - Geschieden, geköpft, gestorben: Ein Musical der etwas anderen Art - Sophie-Marie Schulz
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Geschieden, geköpft, gestorben: Ein Musical der etwas anderen Art

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14.03.2024

Das Publikum im Admiralspalast tobt. Hände werden in die Luft gerissen, lautes Pfeifen schalt durch den hell erleuchteten Saal. Eine Frau öffnet ihren Mund, legt den Kopf in den Nacken und fängt an zu kreischen. Weitere Zuschauer schließen sich an. Die Stimmung ist aufgeheizt. Kein Wunder, denn das Publikum wird Zeuge der Deutschlandpremiere des Musicals „Six“.

Für einen Augenblick, so kurz wie ein Wimpernschlag, wird es ruhiger im Saal. Unter einem tiefschwarzen Vorhang, der das Innere der Bühne verhüllt, quillt dicker Rauch hervor. In Richtung Zuschauerraum. Der Vorhang fällt und sechs Frauen betreten die Bühne. Zwei von ihnen wurden geköpft, eine ist gestorben, zwei wurden geschieden und eine hat überlebt.

An diesem Abend wird Geschichte geschrieben, im wahrsten Sinne des Wortes. Das britische Musical „Six“ wird zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne aufgeführt. Aber auch die Storyline der 90-minütigen Musikshow hat bereits Geschichte geschrieben. Sie ist nicht frei erfunden, sondern basiert auf den........

© Berliner Zeitung


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