Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland mehr als 350.000 Asylanträge gestellt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verzeichnet einen Anstieg um 51 Prozent. Zeitlich wächst die Ablehnung gegenüber der fremden Kultur – auf beiden Seiten. Die Fronten sind verhärtet. Der Deutsche versteht den Ausländer nicht und andersherum. Wie kommen wir aus diesem Dilemma wieder heraus?

Die Antwort eines Deutschen liegt auf der Hand – ‚Der Ausländer hat sich zu integrieren.‘ Doch was genau meinen wir damit und ab wann gilt jemand als „voll durchintegriert“? Autor und Poetry-Slammer Aidin Halimi blickt aus zwei Perspektiven auf diese Frage. Mit einem iranischen und einem deutschen Auge. In seinem Buch „Hinundherkunft“ beschreibt er, wie er mit dieser Dualität umgeht. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung konkretisiert Halimi seine Gedanken und erklärt, wieso Integration eine „Einbahnstraße“ sein kann.

Herr Halimi, Sie sind im Iran geboren und erst mit 16 Jahren nach Deutschland gekommen. Wie haben Sie das Land und die Menschen damals wahrgenommen?

Die Menschen habe ich als distanziert und reserviert wahrgenommen. Mein Eindruck war, dass die Deutschen viel mehr mit sich selbst beschäftigt waren, als im sozialen Gefüge aufzugehen. Das Land selbst hatte natürlich viel Neues zu bieten. Meine Lebensumstände haben sich auch geändert. Im Iran habe ich in einer Metropole gelebt, dann war ich plötzlich in Wolfenbüttel. Es war nicht nur viel kleiner, sondern auch so ordentlich. Was mich beispielsweise sehr beeindruckt hat, waren die Aushänge an den Bushaltestellen. Die Ankunft und Abfahrt der Busse werden auf die Minute genau angegeben. Das war mir neu. Und dann kommen die Busse sogar fast immer pünktlich. Damals hat mich das sehr überrascht.

Haben Sie diese „deutschen Eigenheiten“ – Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit – damals belächelt und sich diese dann aber selbst irgendwann angeeignet?

Belächelt? Nicht wirklich! Ich musste mir das auch nicht unbedingt aneignen. Pünktlich war ich zum Beispiel, bevor ich den deutschen Pass hatte. Und es ist heute noch so. Ich kann es nicht leiden, wenn ich unpünktlich bin. Wenn andere unpünktlich sind, dann stört mich das nicht so sehr, wie wenn ich es bin. Mit der Sauberkeit ist es ähnlich. Dafür musste ich nicht nach Deutschland kommen, um die Sauberkeit kennenzulernen. Mit der übertriebenen Ordnung allerdings tue ich mich schwer. Aber ich arbeite dran, ein Mindestmaß an Ordnung zu halten.

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Sie sprechen in „Hinundherkunft“ immer wieder das Thema Alltagsrassismus an. Würden Sie sagen, dass die ablehnenden Sprüche, Blicke und der Umgang mit Ihnen ein Grund dafür sind, wieso Sie „nie ganz in Deutschland angekommen“ sind?

Auf jeden Fall. Als ich noch frisch in Deutschland war, war ich sehr motiviert und wollte schnell die Sprache lernen. Die Kultur kennenlernen. Damals hatte ich keine Ahnung, was Integration überhaupt bedeuten soll. Ich habe einfach gemacht, was sich richtig angefühlt hat. Ich dachte, wenn ich die Sprache lerne und respektvoll mit den Menschen umgehe, dann wird es schon klappen. Später habe ich dann unschöne Erfahrungen gemacht und gemerkt, dass ich vielleicht nie zu hundert Prozent dazugehören werde. Solche Begegnungen und damit verbundene Enttäuschungen sind sehr verletzend, aber mit der Zeit lernt man, mit diesen Verletzungen umzugehen. Ich kann meine iranische Identität auch nicht ablegen. Sie gehört zu mir. Vielleicht kann ich deswegen auch nicht zu 100 Prozent deutsch sein.

Von welcher Art von Verletzung sprechen Sie? Blicke, Äußerungen …

Das ist unterschiedlich. Manche Äußerungen sind subtil, andere sehr direkt. Ich habe auch schon physische Gewalt erlebt. Es ist sehr vielfältig und kommt auch in ganz unterschiedlichen Kreisen vor. Da gibt es keine gesellschaftliche Schicht, die frei von Rassismen wäre.

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Aber nicht jeder Deutsche ist ein Rassist.

Auf keinen Fall. Diese rassistischen Erfahrungen brennen sich aber im Gedächtnis ein, weil sie einen nachhaltig verletzen.

Ist Deutschland und Berlin trotzdem eine Art Heimat geworden?

Ganz klar, aber ich würde mich nicht auf eine Heimat festlegen wollen. Kürzlich habe ich einen Text geschrieben, in dem es um den Begriff Heimat geht. Am Anfang musste ich erst mal nachschlagen, was die Mehrzahl von Heimat ist – Heimaten. Ich habe mindestens zwei. Deutschland und den Iran. Aber schlussendlich ist für mich der Begriff Heimat weniger an einen geografischen Ort gebunden. Es sind die Menschen, die einem dieses Gefühl von Heimat geben. Die einen wertschätzen und lieben. Ja, das ist für mich Heimat.

Sie beschreiben Ihre eigene Identität als „deutsch-iranische Ehe.“ Wer hat in dieser Beziehung die Hosen an?

Also sprachlich auf jeden Fall das Deutsche.

Weil Sie kein Persisch mehr sprechen?

Wenn ich mit meinen Eltern spreche, dann merke ich erst, wie sehr ich aus der Übung bin. Manchmal muss ich erst nachdenken, wie ich etwas auf Persisch sagen kann. Dann wird das manchmal so ein Mischmasch. Es gibt Aspekte, wo das Deutsche überwiegt. Trotzdem gibt es Dinge, da spüre ich die iranische Seite sehr stark.

Zum Beispiel?

Die Gelassenheit vielleicht. Kleinigkeiten nicht so wichtig zu nehmen. Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Vielleicht bin ich auch deswegen so langsam auf der Karriereleiter unterwegs. Aber ich mag das sehr.

Haben Sie Ihr Buch auch deswegen „Hinundherkunft“ genannt, weil Sie diesen Dualismus damit am besten in Worten ausdrücken können?

Ja, auf jeden Fall. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin. Es hat sehr lange gedauert, einen Titel zu finden. Dieses Wort kam plötzlich aus dem Nichts und drückt ziemlich genau dieses Gefühl aus, das vielleicht sehr viele Menschen in sich tragen, die ihre Identität nicht eindeutig benennen können.

Und das wird für immer so bleiben?

Das ist, denke ich, ein lebenslanger Prozess. Ich werde mir immer wieder diese Fragen stellen – wer bin ich, was will ich? Das ist aber auch gut so!

Auf dem Cover ihres Buchs prangt der Untertitel „Storys eines voll Durchintegrierten.“ Bezeichnet Sie die Ausländerbehörde so oder ist das eine Neuschöpfung von Ihnen?

So kreativ ist die Ausländerbehörde nicht. Das kommt von mir. Die Frage meiner Identität ist eng mit dem Begriff Integration verbunden. Bevor Menschen mit Migrationshintergrund akzeptiert werden, müssen sie sich integrieren. Sie müssen ein bisschen deutsch werden. Meiner Meinung nach ist das aber gar nicht das Entscheidende. Der Begriff der Integration wertet die Menschen eher ab, als dass er die Menschen eingliedert.

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Was müsste sich denn ändern?

Unser Verständnis von Integration kommt einer Einbahnstraße gleich. Am Ende steht die Integration und auf dem Weg dorthin müssen die Migranten Bedingungen erfüllen. Aber andersherum werden keine Bedingungen geschaffen, die es diesen Menschen ermöglichen, Fuß zu fassen. Es gibt Migranten, die seit zwanzig Jahren in Deutschland leben und auf dem Papier nur geduldet werden. Sie befinden sich auf unbestimmte Zeit in einem Schwebezustand. Die Motivation und der Wille, sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen, werden gedämpft.

Aber wenn man nach Deutschland kommt, sich nur in seinen kulturellen Kreisen bewegt und gar nicht in die deutsche Kultur eintauchen will, dann sehe ich für diese Menschen auch eine limitierte Perspektive. Dann festigen sich Vorurteile und stereotypisches Denken – auf beiden Seiten.

Menschen denken in Kategorien, das können wir überhaupt nicht ablegen. Die Frage ist, ob wir es bei unseren Vorurteilen belassen oder einen Schritt weitergehen und die Vorurteile durchbrechen. Hinter jeder Kategorie steckt ein Mensch mit all seinen Facetten und Eigenheiten. Das sollten wir nicht vergessen.

Und hinter Ihren Texten stecken Erfahrungen, die Sie gemacht haben. Teilweise auch sehr persönliche Erlebnisse. Kostet es Überwindung, die innere Gefühlswelt mit gänzlich fremden Menschen zu teilen?

Man macht sich immer ein bisschen nackig. Auf der Bühne ist es noch schwerer, weil man den Leuten direkt gegenübersteht. Wenn ich auf der Bühne etwas Privates von mir erzähle, dann ist das Thema auch wichtig für die Öffentlichkeit. Am Ende aber entscheide ich beim Schreiben selbst, was aus meinem Privatleben in die Öffentlichkeit gelangt und was ich weiterhin privat halte.

Wenn man das Schreiben zum Beruf macht, dann kann einem eine Schreibblockade einen Strich durch die Rechnung machen. Haben Sie Angst davor?

Angst nicht unbedingt. Für mich gehört die Schreibblockade zum Schreiben dazu, genauso wie das Scheitern zum Leben dazugehört. Ich versuche nur, die Schreibblockade im Zaum zu halten, indem ich mich nicht mehr zu sehr unter Druck setze. Unter Druck mögen Diamanten entstehen, aber nicht unbedingt ein gutes literarisches Werk.

Dabei wirkt das Schreiben auf viele Leute, die nicht in einem kreativen Beruf arbeiten, meistens ganz easy.

Es ist, denke ich, auch schwer nachzuvollziehen, wie viel Arbeit in einem Text steckt, den ich innerhalb von fünf Minuten auf der Bühne performe. Von der ersten Idee bis zur Umsetzung können Monate vergehen.

Buchpremiere: 28. April 2024. 19 Uhr. Lovelite. Haasestr. 1, 10245 Berlin

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Aidin Halimi: „Unser Verständnis von Integration kommt einer Einbahnstraße gleich“

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27.04.2024

Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland mehr als 350.000 Asylanträge gestellt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verzeichnet einen Anstieg um 51 Prozent. Zeitlich wächst die Ablehnung gegenüber der fremden Kultur – auf beiden Seiten. Die Fronten sind verhärtet. Der Deutsche versteht den Ausländer nicht und andersherum. Wie kommen wir aus diesem Dilemma wieder heraus?

Die Antwort eines Deutschen liegt auf der Hand – ‚Der Ausländer hat sich zu integrieren.‘ Doch was genau meinen wir damit und ab wann gilt jemand als „voll durchintegriert“? Autor und Poetry-Slammer Aidin Halimi blickt aus zwei Perspektiven auf diese Frage. Mit einem iranischen und einem deutschen Auge. In seinem Buch „Hinundherkunft“ beschreibt er, wie er mit dieser Dualität umgeht. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung konkretisiert Halimi seine Gedanken und erklärt, wieso Integration eine „Einbahnstraße“ sein kann.

Herr Halimi, Sie sind im Iran geboren und erst mit 16 Jahren nach Deutschland gekommen. Wie haben Sie das Land und die Menschen damals wahrgenommen?

Die Menschen habe ich als distanziert und reserviert wahrgenommen. Mein Eindruck war, dass die Deutschen viel mehr mit sich selbst beschäftigt waren, als im sozialen Gefüge aufzugehen. Das Land selbst hatte natürlich viel Neues zu bieten. Meine Lebensumstände haben sich auch geändert. Im Iran habe ich in einer Metropole gelebt, dann war ich plötzlich in Wolfenbüttel. Es war nicht nur viel kleiner, sondern auch so ordentlich. Was mich beispielsweise sehr beeindruckt hat, waren die Aushänge an den Bushaltestellen. Die Ankunft und Abfahrt der Busse werden auf die Minute genau angegeben. Das war mir neu. Und dann kommen die Busse sogar fast immer pünktlich. Damals hat mich das sehr überrascht.

Haben Sie diese „deutschen Eigenheiten“ – Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit – damals belächelt und sich diese dann aber selbst irgendwann angeeignet?

Belächelt? Nicht wirklich! Ich musste mir das auch nicht unbedingt aneignen. Pünktlich war ich zum Beispiel, bevor ich den deutschen Pass hatte. Und es ist heute noch so. Ich kann es nicht leiden, wenn ich unpünktlich bin. Wenn andere unpünktlich sind, dann stört mich das nicht so sehr, wie wenn ich es bin. Mit der Sauberkeit ist es ähnlich. Dafür musste ich nicht nach Deutschland kommen, um die Sauberkeit kennenzulernen. Mit der übertriebenen Ordnung allerdings........

© Berliner Zeitung


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