Gideon Levy ist eine Institution in Israel. Als Herausgeber der liberalen Tageszeitung Haaretz mischt er sich in die öffentliche Debatte ein. Die Berliner Zeitung sprach mit ihm über eine drohende israelische Reaktion auf den Iran, den Krieg im Gazastreifen und das Verbot des Palästina-Kongresses in Berlin.

Herr Levy, der Iran hat Israel am vergangenen Wochenende mit mehr als 300 Raketen und Drohnen angegriffen. Jetzt wartet die Welt darauf, wie Israel reagieren wird. Glauben Sie, dass es in naher Zukunft einen Vergeltungsschlag gegen den Iran geben wird?

Leider ja. Denn Israel lässt keine Gelegenheit aus, Fehler zu machen. Die Regierung hat bereits von diesem Angriff profitiert, indem sie die Verteidigungsfähigkeit des Landes bewiesen hat. Außerdem hat sie eine außergewöhnlich starke Koalition geschaffen von Ländern, von denen sie unterstützt wird. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Israel wird mit einem großen Militärschlag antworten. Dies wird zu einem regionalen Krieg führen, den niemand will. Oder Israel wird nur mit einem symbolischen Beschuss reagieren. Dann wird es nur begrenzten Schaden geben. Aber beide Schritte führen zu nichts. Deshalb verstehe ich unsere Entscheidungsträger nicht. Im Kabinett gibt es keine Argumente. Alle sind für einen weiteren Angriff. Die Armee unterstützt einen weiteren Angriff.

Ist Ihr Eindruck, dass weitere Militärschläge von der Mehrheit der israelischen Bevölkerung unterstützt werden würden?

Israelis haben normalerweise die Tendenz, aggressive, militärische Schritte zu unterstützen. Es gibt nicht eine solch große Unterstützung, wie es sie nach dem 7. Oktober bei der Bestrafung der Bevölkerung des Gazastreifens gegeben hat. Aber ich bin mir sicher, dass die meisten Israelis jetzt jede Art von Angriff auf den Iran unterstützen, und niemand denkt über die Kosten und Konsequenzen nach. Das wurde auch bei den Militärschlägen gegen Gaza nicht getan. Aber bei einem Angriff auf den Iran können die Folgen noch viel fataler sein.

Die Angriffe des israelischen Militärs auf den Gazastreifen laufen bereits seit sechs Monaten. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass es zu einem Ende des Krieges kommt?

Die Israelis sind in ihrer großen Mehrheit für die Fortsetzung des Krieges. Bei den großen Protesten, die wir dieser Tage in Israel sehen, wird der Rücktritt von Premierminister Benjamin Netanjahu und die Freilassung der von der Hamas entführten israelischen Geiseln gefordert. Aber niemand spricht von einem Ende des Krieges. Von Anfang an gibt es keinen Plan für den Tag danach. Die Regierung führt den Krieg weiter, weil sie nicht weiß, was sie sonst tun soll.

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Die Regierung Netanjahu steht in Israel unter starkem Druck. Viele Nahost-Analysten sind der Meinung, dass Netanjahu auch ein persönliches Interesse an einer Ausweitung des Krieges im Nahen Osten hat. Sehen Sie das auch so?

Persönliche Interessen spielen immer eine Rolle. Es wäre naiv zu glauben, dass Politiker nur das Beste für die Gesellschaft im Blick haben. Die Frage ist nur, was überwiegt. Es gibt die Sicht, dass die Karriere von Netanjahu in dem Moment vorbei sein wird, wenn der Krieg vorbei ist, und dass er ihn deshalb weiterführen will.

Andererseits war Netanjahu in der Vergangenheit immer sehr viel vorsichtiger als andere israelische Premierminister, Kriege zu beginnen. Er wusste, dass niemand gut aus Kriegen herauskommt. Es ist klar, dass niemand aus dem Gazakrieg als Sieger hervorgehen wird. Dasselbe gilt für den Iran. Der Unterschied ist, dass ein Krieg mit dem Iran viel gefährlicher sein wird.

Deshalb hoffe ich immer noch, dass es zu keiner direkten Konfrontation kommt. Aber vielleicht hat Netanjahu auch andere Gründe. Vielleicht treibt ihn seine rechte Regierungskoalition dazu. Vielleicht wird er so weit gehen, weil er fürchtet, sich ansonsten wegen Korruption einem Prozess stellen zu müssen. Die meisten meiner Freunde denken, dass er nur von seiner persönlichen Agenda geleitet wird. Ich hoffe es nicht.

„Er wird dafür bezahlen müssen“: Israels Ex-Geheimdienstchef gibt Netanjahu Mitschuld am Hamas-Massaker

10.12.2023

In Deutschland sollte am vergangenen Wochenende ein Palästina-Kongress stattfinden. Die deutschen Behörden haben die Veranstaltung verboten. Es habe gedroht, dass antisemitische Reden gehalten würden, hieß es. Was halten Sie davon?

Ich habe die Vorgänge mit großer Sorge und Betroffenheit verfolgt. Nicht nur deshalb, wie mit den Palästinensern umgegangen wird, sondern auch wegen der Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland.

Deutschland hat sich dafür entschieden, dass Freundschaft mit Israel bedeutet, keine Kritik an Israel zuzulassen. Aber das ist keine gute Freundschaft. Israel zu kritisieren, wurde in Deutschland kriminalisiert. Das wird nur einen negativen Effekt haben. Es wird den Antisemitismus nur verstärken, nicht verringern. Es wird die Stimmung gegen Israel verstärken. Es bedeutet doch, dass die Kritik an Israel schon so stark ist, wenn Deutschland verbieten muss, dass Menschen sich frei über Israel äußern dürfen. Die Deutschen sollten über Israel und Palästina frei sprechen dürfen.

Deutschland trägt für die Verbrechen der Shoah eine große Verantwortung. Es ist auch offensichtlich, dass Deutschland zumindest eine indirekte Verantwortung gegenüber den Palästinensern hat. Denn die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser von ihrem Land, ist eine Folge des Holocaust.

Dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der eine Rede auf dem Palästina-Kongress halten wollte, wurde die Einreise verwehrt. Wie wurde der Vorgang in Israel wahrgenommen?

Das Vorgehen der deutschen Regierung ist sehr kontraproduktiv. Ich frage mich nach der Motivation. Warum kann der ehemalige Finanzminister Griechenlands nicht nach Deutschland kommen und sich gegen die Besatzung Palästinas aussprechen? Er ruft nicht zur Vernichtung Israels auf oder zum Töten von Juden auf. Klar ist: Es gibt viele Antisemiten. Aber nicht jeder Kritiker von Israel ist ein Antisemit. Leider hat Israel Erfolg mit seiner Strategie, jede Kritik zum Schweigen zu bringen, indem es sie als Antisemitismus abstempelt.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ist diese Woche nach Israel gereist. Denken Sie, Deutschland wird zur Deeskalation im Nahen Osten einen wichtigen Beitrag leisten?

Deutschland ist ein wichtiger Verbündeter Israels, vielleicht der zweitbeste Freund nach den Vereinigten Staaten. Ein Freund sollte kritisieren und Maßnahmen ergreifen, wenn es nötig ist. Als Russland in die Ukraine einmarschiert ist, hat Deutschland das sehr deutlich verurteilt und Maßnahmen ergriffen. Als Israel in den Gazastreifen einmarschierte, stand Deutschland Israel zur Seite. Das hätte so nicht geschehen dürfen. Deutschland hätte Israel mitteilen sollen, dass der Krieg in Gaza inakzeptabel ist und Konsequenzen haben wird. Diese deutsche Regierung ist aber nicht in der Lage dazu. Das ist keine Freundschaft.

Nehmen wir an, Sie würden die deutsche Außenministerin persönlich treffen. Was würden Sie Annalena Baerbock sagen, wie sie zur Deeskalation im Nahen Osten beitragen soll?

Ich würde ihr sagen: Es wurde genug geredet, es ist an der Zeit, Maßnahmen zu ergreifen. Israel hat bislang alle Ratschläge seiner Verbündeten ignoriert. Wenn Frau Baerbock der Meinung ist, dass der Krieg in Gaza unverhältnismäßig ist und beendet werden sollte, dann müssen konkrete Schritte folgen. Aber wenn sie nur redet, ist das wirklich Zeitverschwendung.

Versprecher zum Nahost-Konflikt: Irritierender Auftritt von Baerbock in den „Tagesthemen“

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Glauben Sie, dass es unter den schwierigen Umständen noch eine Chance für eine Zwei-Staaten-Lösung gibt?

Die Idee hinter der Zwei-Staaten-Lösung ist: Zwei Völker kämpfen um ein Stück Land. Lasst es uns teilen. Das Problem ist aber, dass dies schon seit vielen Jahren keine praktikable Lösung mehr ist. Es gibt mittlerweile 700.000 Siedler im Westjordanland. Sie sind sehr mächtig geworden. Unter diesen Umständen ist ein palästinensischer Staat nicht lebensfähig. Die Zwei-Staaten-Lösung ist richtig, aber meiner Meinung nach derzeit unmöglich umzusetzen.

Präsident Joe Biden steht in den Vereinigten Staaten wegen seiner einseitigen Unterstützung für Israel unter großem Druck. Glauben Sie, dass er seine Meinung und seinen Standpunkt ändern wird?

Jedes Mal, wenn ich denke, er ändert seine Haltung, liefern die USA wieder einen Waffenkonvoi nach Israel. Biden sagt oft das Richtige, aber gleichzeitig folgt nichts daraus. Die USA haben viele Waffen an Israel geliefert, ohne Bedingungen zu stellen. Biden bleibt nicht mehr viel Zeit vor den Präsidentschaftswahlen, um seinen Kurs zu korrigieren. Bislang hält er an seiner einseitigen Unterstützung Israels fest.

Donald Trump hat gute Chancen, im Herbst die Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Würde Netanjahus Position in Israel dadurch weiter gestärkt?

Trump war ziemlich sauer auf Netanjahu, als er nicht wieder zum Präsidenten gewählt wurde, weil Netanjahu Biden zum Wahlsieg gratuliert hatte. Vielleicht hat Trump ihm das bis heute nicht verziehen, er ist schließlich sehr emotional. Trump wäre eine Katastrophe für die Vereinigten Staaten und für den Rest der Welt. Wie wird es mit Israel sein? Er hat bereits gesagt, dass er die Fortsetzung des Krieges nicht unterstützt. Ich weiß es also nicht. Ich hoffe für uns alle, dass dieser Mann nicht gewählt wird.

QOSHE - Baerbocks Nahost-Politik: Israelischer Journalist Gideon Levy hält sie für „Zeitverschwendung“ - Simon Zeise
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Baerbocks Nahost-Politik: Israelischer Journalist Gideon Levy hält sie für „Zeitverschwendung“

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19.04.2024

Gideon Levy ist eine Institution in Israel. Als Herausgeber der liberalen Tageszeitung Haaretz mischt er sich in die öffentliche Debatte ein. Die Berliner Zeitung sprach mit ihm über eine drohende israelische Reaktion auf den Iran, den Krieg im Gazastreifen und das Verbot des Palästina-Kongresses in Berlin.

Herr Levy, der Iran hat Israel am vergangenen Wochenende mit mehr als 300 Raketen und Drohnen angegriffen. Jetzt wartet die Welt darauf, wie Israel reagieren wird. Glauben Sie, dass es in naher Zukunft einen Vergeltungsschlag gegen den Iran geben wird?

Leider ja. Denn Israel lässt keine Gelegenheit aus, Fehler zu machen. Die Regierung hat bereits von diesem Angriff profitiert, indem sie die Verteidigungsfähigkeit des Landes bewiesen hat. Außerdem hat sie eine außergewöhnlich starke Koalition geschaffen von Ländern, von denen sie unterstützt wird. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Israel wird mit einem großen Militärschlag antworten. Dies wird zu einem regionalen Krieg führen, den niemand will. Oder Israel wird nur mit einem symbolischen Beschuss reagieren. Dann wird es nur begrenzten Schaden geben. Aber beide Schritte führen zu nichts. Deshalb verstehe ich unsere Entscheidungsträger nicht. Im Kabinett gibt es keine Argumente. Alle sind für einen weiteren Angriff. Die Armee unterstützt einen weiteren Angriff.

Ist Ihr Eindruck, dass weitere Militärschläge von der Mehrheit der israelischen Bevölkerung unterstützt werden würden?

Israelis haben normalerweise die Tendenz, aggressive, militärische Schritte zu unterstützen. Es gibt nicht eine solch große Unterstützung, wie es sie nach dem 7. Oktober bei der Bestrafung der Bevölkerung des Gazastreifens gegeben hat. Aber ich bin mir sicher, dass die meisten Israelis jetzt jede Art von Angriff auf den Iran unterstützen, und niemand denkt über die Kosten und Konsequenzen nach. Das wurde auch bei den Militärschlägen gegen Gaza nicht getan. Aber bei einem Angriff auf den Iran können die Folgen noch viel fataler sein.

Die Angriffe des israelischen Militärs auf den Gazastreifen laufen bereits seit sechs Monaten. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass es zu einem Ende des Krieges kommt?

Die Israelis sind in ihrer großen Mehrheit für die Fortsetzung des Krieges. Bei den großen Protesten, die wir dieser Tage in Israel sehen, wird der Rücktritt von........

© Berliner Zeitung


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