Eine klare politische Haltung zu haben, ist wie ein Konzert der Lieblingsband – eine feine Sache, denn alle wissen, was kommt, und die Fans kennen jede Liedzeile. Auch in der Politik gibt Beständigkeit ein Gefühl von Vertrauen. Gerade in wirren und irren Zeiten wie diesen, in denen auch die Welt vor der eigenen Haustür unübersichtlich wird und Extremisten großen Zulauf verzeichnen, sorgen klare Einstellungen für Verlässlichkeit.

Das hat dieser Demo-Winter gezeigt, der in Berlin für neue Rekorde sorgte: Immerhin vermeldet die Polizei für die ersten drei Monate zwei Drittel mehr Demos als im gleichen Zeitraum vor der Pandemie. Für Kundgebungen sorgten der Terror der Hamas und der Gazakrieg, es folgten Blockaden der Bauern, die mit Traktoren teilweise das halbe Autobahnnetz lahmlegten. Als das Potsdamer Treffen und die Remigrationspläne von Rechtsradikalen öffentlich bekannt wurden, trieb das überall viele gegen Rechtsextremismus auf die Straße: Hunderte Kundgebungen, bei denen die Menschen ihre Ängste vor einer immer stärker werdenden AfD ausdrückten und in Sprechchöre einstimmten, in die Gesänge der Demokratie.

Bei allen Demos, egal ob bei den Bauern oder gegen Rechtsextremismus, schwärmen die Teilnehmer von einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit. Ein Gefühl fast wie bei einem Rockkonzert: Oben auf der Bühne gibt das Schlagzeug den Takt vor, und unten nicken die Fans mit; dann singt der Sänger oben diese magischen Worte, und unten vollenden Tausende Kehlen seine Sätze. Manche singen mit, manche recken die Faust in den Himmel, bei anderen läuft ein Schauer den Nacken hinunter.

Im Traktor nach Berlin: Die Bauern sehen Stinkefinger und hören viel Beifall

16.01.2024

05.04.2024

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Solche Momente gibt es auch bei Demos: das Stakkato der Sprechchöre, der Glanz in den Augen der anderen, die gemeinsame Wut. So wie am 21. Januar: Die Demonstration „Demokratie verteidigen“, mehr als 100.000 Leute im Herzen von Berlin, so viele, dass die Polizei das Regierungsviertel absperren musste. Menschen über Menschen im Rausch der Verbundenheit. Bei einigen sah ich Tränen in den Augen, andere umarmten wildfremde Leute. Ein Hochgefühl wie zuvor auch bei den Bauern, dieser Stolz, dieses Bewusstsein: Wir sind nicht allein, wir sind stark. Eine politische Haltung kann wie eine Heimat sein.

Nun, nach drei Monaten Dauerprotesten, stellt sich die Frage: Haben die Demos etwas verändert? Viele jüdische Geiseln bleiben verschollen, und in Gaza wurden in fünf Monaten mehr Zivilisten getötet als in zwei Jahren Ukrainekrieg. Über den Agrardiesel streiten die Parteien weiter. Mit der Demowelle gegen rechts sanken zwar die Werte der AfD von 22 auf 18 Prozent, nun aber ebbt die Welle ab, die AfD steht weiter auf Platz 2, hat bessere Werte als vor Jahresfrist und steigt in ersten Umfragen wieder.

Was also bringen Demos? Erst einmal stärken sie Leute, die sich im Alltag unbeachtet und schwach fühlen. Demos dienen auch der Selbstvergewisserung, denn auch in der Demokratie ist mitunter Mut nötig für das Zurschaustellen der eigenen Überzeugung. Gegen Rechtsradikale zu demonstrieren ist in der AfD-blauen Lausitz gewagter als in Kreuzberg. Ein Grüner in Cottbus sagte mir vor einer Demo: „Hier wissen die politischen Gegner ganz genau, wo du wohnst.“

Demos geben auch Kraft, etwa als die Bauern am 15. Januar ihre Traktoren auf zwölf Kilometern einmal quer durch Berlin aufreihten. Ich saß neben einem Bauern im Traktor, er fuhr die endlosen Reihen entlang und sagte stolz: „Nie hätte ich gedacht, dass wir so viele werden.“

Und doch sorgen Demos – wie meist – nur für ein Strohfeuer der Aufmerksamkeit. Demos sprechen vor allem das eigene Lager an. Dazu kommt: Demos grenzen oft auch aus. Ein Beispiel: In der Rigaer Straße gab es vor längerem Ärger um ein Besetzerhaus, überall im Friedrichshain warben Plakate für eine Demo. Dort stand: Cis-Männer sind unerwünscht. Auch die Großdemos der jüngsten Zeit sind nicht inklusiv. Sie richten sich gegen rechts – und auf dieser Seite verorten viele nicht nur Radikale und Neonazis; auch CDU-Leute werden deshalb selten eingeladen.

Bei Demos geht es immer auch um Deutungshoheit: Wem gehört die Straße? Lange Zeit gehörte sie den Pegida-Leuten, dann den Corona-Kritikern oder „Querdenkern“, es folgten Friedensdemos und nun die Welle gegen Rechtsaußen. Die Demos senden ihre Signale in die Gesellschaft. Und egal, wie groß oder klein eine Demo ist, oft sind die Macher überzeugt, für eine schweigende Mehrheit zu sprechen und zu den Guten zu gehören.

Niemand kann gezwungen werden, schlau zu sein, aber in einer Demokratie muss auch für eine Dummheit erst eine Mehrheit gefunden werden.

Doch eigentlich sind Demos nur der erste Schritt, das Alarmsignal. Sie können wachrütteln und Missstände öffentlich machen, doch nach diesem ersten Aktionismus muss die Debatte folgen, muss der Inhalt nachgeliefert werden zu den schlichten Losungen der Straße. Doch immer öfter scheint das Reden nicht mehr wichtig. Vielen geht es nur darum, eine klare Haltung zu demonstrieren: auf Unterschriftenlisten, in sozialen Medien, auf der Straße.

Auf Demos zeigen die Menschen ihre Haltung; sie wollen nicht mit Zweifeln konfrontiert werden, sie suchen Bestätigung und nach Losungen zum Mitbrüllen. Oft geht es ums große Ganze: Früher riefen die Leute „Merkel muss weg“, nun muss die Ampel weg. Die Wut auf die Regierung scheint die wichtigste Konstante, ansonsten geht es wild durcheinander: „Ganz Berlin hasst die AfD.“ „Bockwurst statt Döner – Ausländer raus.“ „Alle Autos verbieten.“ „Israel – Holocaust.“ „Putin ist ein Massenmörder.“ „Wer’s Land verkauft und Bauern fängt, ist wert, dass er am Galgen hängt.“ „Klimarevolution jetzt.“ „Stoppt den Völkermord in Gaza.“

Von Wirklichkeit umzingelt: Grüne Politiker im AfD-Land in der Lausitz

25.02.2024

Übertreibungen, Rechthaberei, Provokationen – all das passt in eine Zeit, in der die Lokführer der GDL nicht von ihren Maximalforderungen abweichen, eine Zeit, in der ein paar hundert Leute einen „Aufstand der Letzten Generation“ ausrufen und glauben, das Volk würde seine geliebten Autos verschrotten, wenn sie sich ab und an auf Straßen kleben.

Es ist auch eine Zeit der Maximalvorwürfe. Ein Beispiel: Bei einer AfD-Demo zogen Leute mit blauen Fahnen am Brandenburger Tor entlang, am Rande riefen Vermummte der Antifa: „Nazis raus!“ Sofort drehten sich einige Demo-Teilnehmer um und brüllten die Antifa an: „Nazis raus!“

NS-Vorwürfe haben Hochkonjunktur auf allen Seiten: Nicht nur vor dem Kino International hat jemand aufs Pflaster gesprüht: „Grün wird zu Braun.“ Auch zu den Bauerndemos wurde mehr über eine mögliche rechtsradikale Unterwanderung debattiert als über den Agrardiesel. „Damit wollen die uns kleinhalten“, sagte mir ein Bauernfunktionär.

Willkommen in der Republik der Lagerbildung. Immer öfter wird die Debatte auf ein schlichtes Gut und Böse reduziert. Diese Kategorien aus dem Märchen werden über die reale Welt gestülpt – schwarz-weiß statt der nötigen Grautöne. Und getreu dem beliebten Freund-Feind-Schema heißt es: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Und immer öfter ist von Cancel Culture die Rede. Als Paradebeispiel dienen oft Hochschulen, einst Orte des freien und universellen Gedankenaustauschs. Nun wird dort mitunter über geistige Enge geklagt und darüber, dass nicht die Meinung einer Mehrheit zählt, sondern die radikale Haltung lautstarker Kleinstgruppen. In Berliner Unis wird die Grüne Jugend als Kriegstreiber attackiert, und jüdische Studenten trauen sich nicht mehr in den Hörsaal.

Selbst bei hochkomplexen Konflikten wie Israel gegen Palästina, bei denen seit Jahrzehnten auf allen Seiten viel falsch läuft, fallen manchen die Antworten ganz leicht. Sie zeigen eben eine Haltung.

Haltung ist derzeit das Zauberwort der politischen Kultur, denn eine klare Positionierung klingt nach Selbstbewusstsein, und doch steht dahinter oft Hilflosigkeit. Wer ein wenig Diktaturerfahrung aus der DDR hat, denkt schnell an die Sache mit dem Klassenstandpunkt. Nicht nur in meinem Schulzeugnis standen Sätze wie: „Zu unserem Staat hat Jens eine positive Einstellung. Er vertritt einen klaren politischen Standpunkt und bringt ihn auch in Diskussionen zum Einsatz.“

So erklärt sich der Erfolg der AfD: „Ostdeutsche wurden als Schmuddelkinder dargestellt“

10.03.2024

In der DDR waren politische Ansichten nicht privat, aber in einer Demokratie sollten sie es sein, zum Glück. In einer Demokratie sind nicht nur die Gedanken frei, sondern auch die Meinungen. Deshalb gehört die Meinungsfreiheit zu den Fundamentsteinen der Verfassung. Und doch rutscht die Gesellschaft immer mehr in eine Haltungsdemokratie ab.

Dass mit Meinung und Haltung nicht dasselbe gemeint ist, zeigen die Feinheiten der deutschen Sprache: Es gibt nur Meinungsaustausch, keinen Haltungsaustausch. Meinungen sind etwas Fluides, sind Ausdruck gedanklicher Offenheit. Wer sich eine Meinung bildet, ist wissbegierig und macht es sich nicht leicht, denn Argumente müssen erst erarbeitet werden. Und dort, wo die Meinung endet, beginnt die wahre Herausforderung: die Debatte, die Auseinandersetzung, der Kern demokratischer Politik.

Argumente können überzeugend sein, aber auch schwach, sie können von konträren Gedanken ins Wanken gebracht werden. Vieles, das in den politischen Raum gestellt wird, ist kurzsichtig, egoistisch, wahltaktisch, wenig moralisch oder auch dumm. Niemand kann gezwungen werden, schlau zu sein, aber in einer Demokratie muss auch für eine Dummheit erst eine Mehrheit gefunden werden, sonst setzen sich schlauere Dinge durch. Das jedenfalls ist die Hoffnung.

Doch der Weg zum Ergebnis ist oft lang und führt über zähe Debatten. Bei jeder Kommunikation – egal, ob in der Ehe oder in der Politik – lautet die Grundregel: „Reden hilft.“ Deshalb ist Demokratie nun mal Arbeit, deshalb ist sie anstrengend, deshalb flüchten sich viele lieber in den sicheren Hafen klarer Haltungen.

Eine klare Positionierung ist nichts Schlechtes, manche Dogmen sind für alle Demokraten unstrittig, etwa dass das Grundgesetz und das Strafgesetzbuch uneingeschränkt gelten. Aber oft werden Haltungen auf einfache Wahrheiten reduziert und stehen für gedankliche Enge. Das reine Beharren auf ideologischen Grundsätzen fördert das Gegeneinander, denn es geht um Konfrontation, nicht um Kompromisse. Und gerade weil die Welt unübersichtlicher wird, gibt es eine Sehnsucht nach klaren Antworten, nach Haltung.

Diese Tendenz wird medial verstärkt: Facebook, X und Instagram sind Wirkbeschleuniger der Unbedachtheit. In einer Zeitung bleibt ein halber Tag Zeit, um einen Kommentar zu schreiben, in sozialen Medien fühlen sich viele genötigt, sofort zu reagieren. Wer aber hyperschnell sein will, hat keine Zeit, sich eine Meinung zu erarbeiten, sondern greift hastig in den Fundus der Glaubenssätze.

Die Allmacht der sozialen Medien sorgt auch für Selbstisolierung. Früher wollten politische Bewegungen nicht nur wegen ihrer Radikalität wahrgenommen werden, sondern Mehrheiten erobern. Heute geht es vielen vor allem um den Beifall der eigenen Bubble.

Und so zerfasert die Gesellschaft in immer kleinere Grüppchen, fast so wie einst bei Monty Python, wo die Volksfront von Judäa gegen die Judäische Volksfront kämpfte. Immer mehr Gruppen gefallen sich in der Rolle, dass alle gegen sie sind und sie gegen alle kämpfen müssen: die Letzte Generation, die Neue Rechte, die Genderfraktion, die Identitären, die antikolonialen Aktivist:innen, die Freien Sachsen, die Intersektionellen Feministinnen, die Querdenker, die Moralisten. Überall Leute, die ihr Denken für alternativlos halten und die unwissenden Massen wie eine Lenin'sche Avantgarde zum Glück zwingen wollen.

Wenn die Demokratie nicht in rechthaberische oder gefährlichere Bahnen abdriften soll, muss Schluss sein mit rigorosem Haltungsfetischismus, dann muss radikaldemokratischer gedacht werden, dann sollten zuerst Grundgesetz und Strafgesetzbuch als Kompass dienen, dann müssen alle Seiten den sicheren Hafen der einfachen Haltungen verlassen und raus aufs offene Meer der freien Meinungen segeln, hin zur Debatte. Reden hilft.

Es gibt ein berühmtes Zitat, das ausgerechnet dem erzkonservativen Knochen Konrad Adenauer zugeschrieben wird. Meist wird nur zitiert: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“ Der entscheidende Teil wird gern weggelassen: „Nichts hindert mich, weiser zu werden.“ Meinung und Zweifel gehören zusammen – der Zweifel ist die wichtigste Erfindung der Menschheit.

Reden hilft. In letzter Konsequenz ist weniger starre Haltung nötig, dafür mehr guter Stammtisch. Wohlgemerkt: kein bayerischer Klischeestammtisch, an dem lebenslange CSU-Mannen mit frisch konvertierten Freien Wählern anstoßen. Gemeint ist ein Berliner Stammtisch wie unserer im Prenzlauer Berg, da sitzen zwar auch meist weiße Männer über 50, aber unsere Wahlkarrieren bilden ein wirklich breites Spektrum ab, inklusive Verirrungen und Scham. Da treffen aufgeschlossene Marxisten auf liberale Köpfe auf historisch geschulte Konservative auf kampfbereite linke Radikale auf gemäßigte Rechte auf kompromissbereite Zweifler – aber vor allem sitzt da viel parteipolitische Enttäuschung am Tisch.

Aber wir sind keine Meckerer, die sich abwenden, sondern Meckerer, die debattieren und noch wählen gehen – auch weil wir als Ossis uns dieses Recht erst erkämpfen mussten.

Die AfD und der Unmut: Wer regierungskritisch ist, gilt plötzlich als „rechts“

14.01.2024

Natürlich sind unsere Runden kein Hochamt der Demokratie: Es ist ein Stammtisch, angetrieben von Bier und Mineralwasser. Wir sind genauso besserwisserisch wie die politischen Beobachter in den Talkshows, und wir lästern auch. Aber wir reden eben meist über mögliche Auswirkungen der Politik auf den Alltag. In Talkshows aber wird oft an der Realität vorbeigeredet, doch wer den Leuten auf der Straße zuhört, merkt: Sie haben oft ganz andere Probleme als jene, die die Politiker auf die Agenda setzen.

Außerdem wird fast nie mit AfD-Wählern geredet. Wenn die Parteien diese immer radikaler werdende Partei weiter meiden, ist das ihre Sache, aber es ist ein fataler Fehler, deren Wähler zu ignorieren. Wer nicht mit denen spricht, sondern sie nur belächelt oder dämonisiert, wird nie begreifen, warum sie so wählen, und wird nichts daran ändern können. Und wer nicht offen über all jene Probleme debattiert und sie löst, mit denen die AfD punktet, macht es dieser Partei sehr leicht, denn die betreibt im Netz erfolgreich eigene Kanäle und ist nicht auf die Tagesordnung der klassischen Medien angewiesen. Und so wählen viele extrem, aber es wenden sich auch viele ab. Nicht umsonst ist vor jeder Wahl der meistgesagte Satz: „Ich weiß nicht mehr, wen ich wählen soll.“

Wahre demokratische Gesinnung zeigt sich im Umgang mit unbequemen Meinungen.

Es wird Zeit für offene Debatten, für politischen Streit, der auch schmerzhaft sein darf. Es muss Schluss sein mit der gönnerhaften Formulierung: „Das muss eine Demokratie aushalten.“ Eine Meinung sollte doch – solange sie verfassungskonform ist – nicht nur als Störgeräusch empfunden werden, sondern als Denkanregung. Wahre demokratische Gesinnung zeigt sich im Umgang mit unbequemen Meinungen.

Wir an unserem Stammtisch streiten oft, aber selbst nach dem härtesten Pandemie-Gefecht kamen wir nicht auf die Idee, Freundschaften aufzukündigen. Unser Schlagwort lautet: „Letztlich ist es nur Politik, und nächstes Mal geht’s weiter.“

Natürlich ist auch unser Stammtisch zu klein und zu engstirnig. Natürlich bräuchten wir noch einen Jungakademiker, denn jener, der jetzt ab und an dabei ist, muss immer die Prügel für den Gender-Zeitgeist einstecken. Gut wären noch ein Polizist am Tisch, eine Frau von der Antifa, ein AfD-Mann und eine Krankenpflegerin. Dann bestellen wir Bier und Wasser und reden zur Einstimmung über die extremen Mieten und dann über die sicher im Sommer wieder steigenden Flüchtlingszahlen und was sie für den Wahlausgang in Sachsen, Thüringen und Brandenburg bedeuten.

Wenn jemand provoziert, dürfen wir auch verärgert sein. Aber nur kurz, dann schütteln wir uns, denn jede Meinung ist erstmal nur eine Meinung, etwas Veränderbares. Wir analysieren und bearbeiten sie, wir polemisieren und provozieren, wir lenken ein oder ab. Und wenn es klappt, überzeugen wir andere oder müssen umschwenken. So wie es sich für eine gute Demokratie gehört.

Am Ende stehen wir auf, geben uns die Hand und wissen ein klein wenig besser, in welche Richtung die Mehrheitsmeinung gehen könnte. Reden hilft.

QOSHE - AfD-Debatte: Wir benötigen weniger eindeutige Haltung, dafür mehr guten Stammtisch - Jens Blankennagel
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AfD-Debatte: Wir benötigen weniger eindeutige Haltung, dafür mehr guten Stammtisch

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07.04.2024

Eine klare politische Haltung zu haben, ist wie ein Konzert der Lieblingsband – eine feine Sache, denn alle wissen, was kommt, und die Fans kennen jede Liedzeile. Auch in der Politik gibt Beständigkeit ein Gefühl von Vertrauen. Gerade in wirren und irren Zeiten wie diesen, in denen auch die Welt vor der eigenen Haustür unübersichtlich wird und Extremisten großen Zulauf verzeichnen, sorgen klare Einstellungen für Verlässlichkeit.

Das hat dieser Demo-Winter gezeigt, der in Berlin für neue Rekorde sorgte: Immerhin vermeldet die Polizei für die ersten drei Monate zwei Drittel mehr Demos als im gleichen Zeitraum vor der Pandemie. Für Kundgebungen sorgten der Terror der Hamas und der Gazakrieg, es folgten Blockaden der Bauern, die mit Traktoren teilweise das halbe Autobahnnetz lahmlegten. Als das Potsdamer Treffen und die Remigrationspläne von Rechtsradikalen öffentlich bekannt wurden, trieb das überall viele gegen Rechtsextremismus auf die Straße: Hunderte Kundgebungen, bei denen die Menschen ihre Ängste vor einer immer stärker werdenden AfD ausdrückten und in Sprechchöre einstimmten, in die Gesänge der Demokratie.

Bei allen Demos, egal ob bei den Bauern oder gegen Rechtsextremismus, schwärmen die Teilnehmer von einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit. Ein Gefühl fast wie bei einem Rockkonzert: Oben auf der Bühne gibt das Schlagzeug den Takt vor, und unten nicken die Fans mit; dann singt der Sänger oben diese magischen Worte, und unten vollenden Tausende Kehlen seine Sätze. Manche singen mit, manche recken die Faust in den Himmel, bei anderen läuft ein Schauer den Nacken hinunter.

Im Traktor nach Berlin: Die Bauern sehen Stinkefinger und hören viel Beifall

16.01.2024

05.04.2024

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Solche Momente gibt es auch bei Demos: das Stakkato der Sprechchöre, der Glanz in den Augen der anderen, die gemeinsame Wut. So wie am 21. Januar: Die Demonstration „Demokratie verteidigen“, mehr als 100.000 Leute im Herzen von Berlin, so viele, dass die Polizei das Regierungsviertel absperren musste. Menschen über Menschen im Rausch der Verbundenheit. Bei einigen sah ich Tränen in den Augen, andere umarmten wildfremde Leute. Ein Hochgefühl wie zuvor auch bei den Bauern, dieser Stolz, dieses Bewusstsein: Wir sind nicht allein, wir sind stark. Eine politische Haltung kann wie eine Heimat sein.

Nun, nach drei Monaten Dauerprotesten, stellt sich die Frage: Haben die Demos etwas verändert? Viele jüdische Geiseln bleiben verschollen, und in Gaza wurden in fünf Monaten mehr Zivilisten getötet als in zwei Jahren Ukrainekrieg. Über den Agrardiesel streiten die Parteien weiter. Mit der Demowelle gegen rechts sanken zwar die Werte der AfD von 22 auf 18 Prozent, nun aber ebbt die Welle ab, die AfD steht weiter auf Platz 2, hat bessere Werte als vor Jahresfrist und steigt in ersten Umfragen wieder.

Was also bringen Demos? Erst einmal stärken sie Leute, die sich im Alltag unbeachtet und schwach fühlen. Demos dienen auch der Selbstvergewisserung, denn auch in der Demokratie ist mitunter Mut nötig für das Zurschaustellen der eigenen Überzeugung. Gegen Rechtsradikale zu demonstrieren ist in der AfD-blauen Lausitz gewagter als in Kreuzberg. Ein Grüner in Cottbus sagte mir vor einer Demo: „Hier wissen die politischen Gegner ganz genau, wo du wohnst.“

Demos geben auch Kraft, etwa als die Bauern am 15. Januar ihre Traktoren auf zwölf Kilometern einmal quer durch Berlin aufreihten. Ich saß neben einem Bauern im Traktor, er fuhr die endlosen Reihen entlang und sagte stolz: „Nie hätte ich gedacht, dass wir so viele werden.“

Und doch sorgen Demos – wie meist – nur für ein Strohfeuer der Aufmerksamkeit. Demos sprechen vor allem das eigene Lager an. Dazu kommt: Demos grenzen oft auch aus. Ein Beispiel: In der Rigaer Straße gab es vor längerem Ärger um ein Besetzerhaus, überall im Friedrichshain warben Plakate für eine Demo. Dort stand: Cis-Männer sind unerwünscht. Auch die Großdemos der jüngsten Zeit sind nicht inklusiv. Sie richten sich gegen rechts – und auf dieser Seite verorten viele nicht nur Radikale und Neonazis; auch CDU-Leute werden deshalb selten eingeladen.

Bei Demos geht........

© Berliner Zeitung


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