In der Chancery Lane in London ist es am Dienstagmorgen ruhig. Es scheint ein gewöhnlicher, bewölkter englischer Tag zu sein – und doch liegt etwas in der Luft. Geschäfte, Cafés und Bars machen gerade auf, so wie The Last Judgement; so steht es in goldenen Buchstaben über der Vitrine der Bar. Auf Deutsch würde der Laden etwa „Das letzte Urteil“ heißen.

Um die Ecke sind die Royal Courts of Justice, dort findet die entscheidende Anhörung im Fall Julian Assange statt. Ob auch für den Wikileaks-Gründer das letzte Urteil bald fallen wird? Vor dem gotischen Justizgebäude wird es laut: „No extradition, only one decision!“ („Keine Auslieferung, nur eine Entscheidung“), rufen Dutzende Menschen im Chor.

Eine Gruppe von Demonstranten schießt gerade ein Erinnerungsfoto. Sie halten schwarze Schilder weit nach oben, auf denen Assanges Gesicht abgebildet ist. Sie lächeln, doch nach dem Foto sehen sie ernst und besorgt aus: „Es gibt nichts zu lachen“, sagt einer von ihnen.

Bereits am Mittwoch könnte Assanges Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika beschlossen werden. Dort droht ihm eine Freiheitsstrafe von bis zu 175 Jahren. Von zwei Richtern hängt es ab, ob Assange in Großbritannien weitere Rechtsmittel einlegen darf. Doch auch dieses Mal könnten sie sich zurückziehen und vorerst kein Urteil fällen.

Letzter Aufruf für Assange – Sevim Dagdelen: „Es ist ein Tod auf Raten“

15.02.2024

Tag X für Julian Assange: Das Verfahren gegen den Wikileaks-Gründer ist politisch

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Can Dündar weiß gut, welche Risiken Journalisten im Zuge großer Enthüllungen eingehen können. Er selbst saß drei Wochen in einem türkischen Gefängnis, nach der Veröffentlichung eines Berichts im Jahr 2015, der den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Verbindung mit Waffenlieferungen an islamistische Milizen in Syrien brachte. „Die Haftbedingungen sind schlimmer in Großbritannien“, sagt Dündar vor dem Gerichtsgebäude.

Er hat ein Replikat von Assanges Zelle gesehen – sie sieht seiner Meinung nach schlimmer aus als seine eigene in der Türkei. „Das war schockierend“, bekräftigt Dündar. Die Entscheidung des Gerichts wird vieles bestimmen, nicht nur die Zukunft von Julian Assange. „Wenn er verliert, verlieren wir das Recht, die Öffentlichkeit zu informieren“, sagt Dündar.

Stella Assange speaking this afternoon at London court hearing for Julian Assange: "What's at stake is the ability to publish the truth and expose crimes when they're committed by states.... the country that is trying to extradite him, plotted to murder him" #FreeAssange pic.twitter.com/5N3xKhFyS3

Demonstranten ziehen um den Platz herum und verteilen Assange-Aufkleber. Auf erst kürzlich aufgestellten Holztischen werden Bücher zum Verkauf angeboten, darunter die Werke des UN-Sonderberichterstatters Nils Melzer und der italienischen Journalistin Stefania Maurizi. Diese bieten einen besonders tiefen Einblick in den Fall Assange. „Die Wahrheit ist bereits ans Licht gekommen“, ruft eine Frau.

In der Zwischenzeit sind alle angekommen. John und Gabriel Shipton, Assanges Vater und Bruder, Stella Assange, seine Ehefrau, und Kristinn Hrafnsson, Assanges „rechte Hand“ und seit dem Jahr 2018 Wikileaks-Chefredakteur. Alle halten Reden zur Unterstützung Assanges und begeben sich dann ins viktorianische Gebäude.

Pünktlich um 10.30 Uhr beginnt die Anhörung. Die Presse darf jedoch nicht im Gerichtssaal anwesend sein. Journalisten werden weitere Säle zugeteilt, in denen sie auf einem Bildschirm die Anhörung verfolgen können. Trotz der viktorianischen Fenster ist es im Annex Room 3 ziemlich dunkel. Es gibt keine Tische, von Steckdosen nicht zu reden.

Die Verbindung steht, dann wieder nicht. Man sieht schlecht und hört noch schlechter. Plötzlich erscheint ein Mann im Bild, es folgt das Geräusch von fließendem Wasser. „Hat jemand die Toilette gespült?“, fragt der Journalist Chip Gibbons im Raum. Alle lachen kurz, dann wird es wieder still. Die Lage ist ernst, und man kann kaum verstehen, was Assanges Anwalt Edward Fitzgerald gerade sagt.

Julian Assanges Stuhl ist leer. Seinem Team zufolge kann der Angeklagte aufgrund seines anhaltend schlechten Gesundheitszustands nicht an seinem eigenen Gerichtsverfahren teilnehmen. „Was für eine Schande, diesen Helden unserer Zeit im Gefängnis lebendig zu begraben“, schrieb auf X, ehemals Twitter, die Politikerin des Bündnisses Sahra Wagenknecht, Sevim Dağdelen. Sie selbst hat es als Prozessbeobachterin in einen der überfüllten Säle geschafft. Die Arbeitsbedingungen für Journalisten im Gericht bezeichnet sie als „staatliche Schikane“.

Seit mehr als vier Jahren ist der australische Wikileaks-Gründer Julian Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London inhaftiert. Doch seine Freiheit wurde ihm bereits vor über einem Jahrzehnt entzogen. Weltweite Aufmerksamkeit erlangten er und die Plattform Wikileaks im April 2010. Damals veröffentlichte die Plattform ein Video mit dem Titel „Collateral Murder“ (Kollateralmord), in dem zu sehen ist, wie Zivilisten, darunter auch Journalisten, in Bagdad von einem amerikanischen Apache-Hubschrauber getötet werden.

Mit der Zeit sammelten sich auf der Enthüllungsplattform Wikileaks Dokumente, die unter anderem Kriegsverbrechen, Folter und Ermordungen belegen. Kurz danach fingen die Amerikaner an, Wikileaks und deren Unterstützer zu verfolgen. Assange fand vorübergehend Schutz in der ecuadorianischen Botschaft in London, bevor er im April 2019 von der britischen Polizei festgenommen und nach Belmarsh gebracht wurde. Seitdem ist er nicht mehr in der Öffentlichkeit erschienen.

Ihr vermutlich entscheidendstes Argument spricht Assanges Verteidigung ganz am Anfang an. Auslieferungen wegen politischer Anschuldigungen sind verboten. Die Anklage der amerikanischen Regierung sei unter dem Espionage Act offenkundig als politisch motiviert einzuordnen, betont Fitzgerald.

Des Weiteren sei die Auslieferung von Assange ein Verstoß gegen den Auslieferungsvertrag zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien vom Jahr 2003. Die Verteidigung ziehe im Falle einer Auslieferung ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Betracht.

„Wenn Julian Assange untergeht und in ein Hochsicherheitsgefängnis verschwindet, wird jeder Journalist weltweit zweimal überlegen, bevor er Geheimnisse des Militärs veröffentlicht“, sagt Jeremy Corbyn der Berliner Zeitung.

Der ehemalige Vorsitzende der Labour Party ist erfreut darüber, dass Sevim Dağdelen, ein Mitglied des Bundestages, nach London gekommen ist, um ihre Unterstützung für Assange zu bekunden. Das könne man von den britischen Abgeordneten nicht behaupten, Assanges Fall sei im britischen Abgeordnetenhaus noch immer zu wenig bekannt.

Corbyn kritisiert zudem die Berichterstattung der britischen Medien und bezeichnet sie als zu langsam. „Überall ist die Geschichte viel größer, nur in Großbritannien nicht“, so Corbyn.

QOSHE - Wikileaks-Gründer Julian Assange: „Held unserer Zeit“ bei entscheidender Anhörung nicht dabei - Franz Becchi
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Wikileaks-Gründer Julian Assange: „Held unserer Zeit“ bei entscheidender Anhörung nicht dabei

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20.02.2024

In der Chancery Lane in London ist es am Dienstagmorgen ruhig. Es scheint ein gewöhnlicher, bewölkter englischer Tag zu sein – und doch liegt etwas in der Luft. Geschäfte, Cafés und Bars machen gerade auf, so wie The Last Judgement; so steht es in goldenen Buchstaben über der Vitrine der Bar. Auf Deutsch würde der Laden etwa „Das letzte Urteil“ heißen.

Um die Ecke sind die Royal Courts of Justice, dort findet die entscheidende Anhörung im Fall Julian Assange statt. Ob auch für den Wikileaks-Gründer das letzte Urteil bald fallen wird? Vor dem gotischen Justizgebäude wird es laut: „No extradition, only one decision!“ („Keine Auslieferung, nur eine Entscheidung“), rufen Dutzende Menschen im Chor.

Eine Gruppe von Demonstranten schießt gerade ein Erinnerungsfoto. Sie halten schwarze Schilder weit nach oben, auf denen Assanges Gesicht abgebildet ist. Sie lächeln, doch nach dem Foto sehen sie ernst und besorgt aus: „Es gibt nichts zu lachen“, sagt einer von ihnen.

Bereits am Mittwoch könnte Assanges Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika beschlossen werden. Dort droht ihm eine Freiheitsstrafe von bis zu 175 Jahren. Von zwei Richtern hängt es ab, ob Assange in Großbritannien weitere Rechtsmittel einlegen darf. Doch auch dieses Mal könnten sie sich zurückziehen und vorerst kein Urteil fällen.

Letzter Aufruf für Assange – Sevim Dagdelen: „Es ist ein Tod auf Raten“

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© Berliner Zeitung


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