Aktuell sorgt eine Rede von Mario Draghi für eine neue Grundsatzdiskussion in der Europäischen Union (EU). Wie soll sich die EU nach den Wahlen entwickeln? Welchen Weg soll das Bündnis mit Blick auf den weitergehenden Krieg in der Ukraine einschlagen? Und wer soll an der Spitze der EU stehen? Mit der Hilfe des französischen Präsidenten Emmanuel Macron könnte Draghi bald EU-Kommissionschef werden. Welche Folgen würde dies für Deutschland haben?

Vergangene Woche sprach der Italiener im Brüsseler Vorort La Hulpe und stellte sein politisches Manifest für Europa vor. Die EU-Kommission hat ihn gebeten, einen Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu verfassen. Es hörte sich zugleich wie ein Bewerbungsgespräch für die Präsidentschaft der EU-Kommission an.

In den knapp zwanzig Minuten sprach Draghi über mehrere Punkte, die ihm am Herzen liegen – von der globalen wirtschaftlichen Umgestaltung bis zur „klimaneutralen“ Versorgung Europas. Andere Länder würden sich „nicht mehr an die Regeln halten“, sagte er. Draghi kritisierte China, aber auch die Vereinigten Staaten. Es brauche ein Europa, das fürs „Heute und Morgen“ gerüstet sei.

„Wir können die gemeinsame Kapazität der EU besser nutzen, insbesondere in Bereichen wie der Verteidigung, wo fragmentierte Ausgaben unsere Gesamtwirksamkeit verringern“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler. Ihm zufolge sollten EU-Mitgliedstaaten eine gemeinsame politische Handlung anstreben, um effizienter zu sein – und zwar „immer“ und in allen wichtigen Punkten.

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23.04.2024

Der Alte Kontinent sei „auf die Welt von gestern ausgerichtet“. Die Zeiten hätten sich geändert, meint Draghi, und so auch die Herausforderungen. Von Corona und dem Ukrainekrieg bis zu den Konflikten im Nahen Osten. Europa müsse auf die Folgen dieser Konflikte vorbereitet sein. Die „Rivalität zwischen den Großmächten“ sei zurückgekehrt. Die Verteidigung der Europäischen Union sprach Draghi in seiner Rede mehrmals an.

Wer zwischen den Zeilen las, konnte Europas neue Mission erahnen – und zwar die militärische Aufrüstung des Kontinents. Dafür bräuchte es aber eine einheitliche Ausrichtung, die für alle EU-Mitglieder gelten müsste, so Draghi. „Um den neuen Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnissen gerecht zu werden, müssen wir unsere gemeinsamen Militär-Beschaffungen verstärken“, sagte Draghi. Die Koordinierung der europäischen Ausgaben solle erhöht und die internationale Abhängigkeit der EU von Drittstaaten verringert werden.

Vor Draghis Auftritt schien noch eine Wiederwahl der amtierenden Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) das wahrscheinlichste Szenario zu sein. Doch auf die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin erhöht sich in letzter Zeit wegen des Pfizergates der politische Druck. Ist das Draghis Chance?

The Declaration we’ve just signed reaffirms our commitment to the European Pillar of Social Rights.

With Mario Draghi’s & @EnricoLetta’s reports on our competitiveness & Single Market, it shows us the way for the future.

A way to confirm our Union’s primacy, as the place to… pic.twitter.com/uoP4nYh84s

Um die Europäische Union kriegstüchtig zu gestalten, würde Mario Draghi an der Spitze der Europäischen Kommission perfekt passen. Von der Leyen hat die Pandemie gemanagt, nun soll Draghi die Post-Covid-Ära organisieren – von der Corona- in die Vorkriegszeit.

In italienischen Medien wurde lange Zeit spekuliert, ob Draghi nach seiner Funktion als italienischer Ministerpräsident den Posten als Generalsekretär der Nato übernehmen möchte. Seine transatlantische Haltung wurde im Mai 2022 in Washington zuletzt gepriesen, als er den Distinguished Leadership Award beim Atlantic Council entgegennahm, einem Thinktank mit engem Bezug zur Nato.

Nach vielen Gerüchten über eine Kandidatur schloss Draghi diese Option aus. Das schrieb zumindest die italienische Zeitung La Repubblica. Ein Nachfolger für den seit zehn Jahren amtierenden Jens Stoltenberg steht noch nicht fest. Manche sehen für den aktuellen polnischen Außenminister Radosław Sikorski gute Chancen.

In Deutschland ist der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) aufgrund seiner expansiven Geldpolitik nicht besonders beliebt. Im Juli 2012 erklärte Draghi, dass die EZB alles in ihrer Macht Stehende getan hätte („whatever it takes“), um den Euro zu retten und die damalige europäische Finanzkrise zu dämmen. Draghis Rezept beinhaltete eine Senkung der Zinssätze und quantitative Lockerungsmaßnahmen. Demnach kaufte die EZB große Mengen an Wertpapieren auf dem Markt.

Dafür erntete der Italiener viel Kritik, gerade aus Deutschland. Einerseits führte diese Politik zu einer momentanen Beruhigung der Finanzmärkte und einem Rückgang der Renditen für Staatsanleihen der südeuropäischen Krisenländer. Gleichzeitig wurde dadurch jedoch das Risiko von Überbewertungen und Ungleichgewichten in mehreren Finanzmarktsektoren erhöht – Immobilienpreise stiegen an und Sparer wurden mit niedrigen Zinsen belastet. Der Norden Europas zog damals den Kürzeren.

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23.11.2023

Macrons doppeltes Spiel: Frankreich importiert russisches LNG wie kein anderer

15.04.2024

Doch Ende Januar 2020 ließ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Draghi-Kritiker im Regen stehen, als er Draghi das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verlieh. Die zweithöchste Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland. Draghis Ruf als „italienischer Genosse der Bosse“ eilt ihm trotzdem immer noch voraus. Dass er kompetent, entschieden und beliebt sei, wird täglich von Politikern und Medien wiederholt. Bei ChatGPT heißt es: „Draghi zeichnet sich durch seine Fähigkeit aus, in turbulenten Zeiten zu agieren und wichtige politische und wirtschaftliche Herausforderungen anzugehen.“

Während er Verdienstkreuze, Preise und Komplimente aus der Politik bekommt, genießt der Staatsmann allerdings keinen guten Ruf unter den Bürgern Italiens. Draghi verwandelte während seiner Zeit als Ministerpräsident (2021–2022) Italien zu einem der Länder mit den weltweit strengsten Coronamaßnahmen. Er setzte eine umstrittene Impfpflicht durch und grenzte Ungeimpfte aus der Gesellschaft aus. Die wirtschaftlichen Wunder, die er in einigen Reden vor seiner Ernennung als Ministerpräsident versprochen hatte, blieben aus.

Man wirft ihm vor, sich von Goldman Sachs nie getrennt zu haben und die Interessen der hohen Einkommensschichten zu vertreten. Zu diesem Entschluss kam auch der emeritierte Präsident Italiens Francesco Cossiga (Ministerpräsident 1979–1980, Präsident des Senats 1983–1985 sowie Staatspräsident 1985–1992), der Draghi während einer Fernsehsendung als „niederträchtigen Geschäftemacher“ bezeichnete.

Es war das Jahr 2008, als Cossiga diese Worte aussprach. Damals war Draghi Gouverneur der Banca d’Italia. Seine Aufgabe sei es gewesen, Italien von seiner Industrie zu entkoppeln und diese an ausländische private Konzerne zu verkaufen, sagte Cossiga einst.

Unter Draghi fing nämlich die Privatisierung der italienischen Unternehmen an. Als Erstes die von Seat Pagine Gialle, einem Kommunikationsunternehmen. Von staatlicher Hand wurde Pagine Gialle an ein privates Investorenkonsortium überführt, zu dem Telecom Italia, Bain Capital und andere gehörten.

Draghi versprach damals, mit dieser Maßnahme die Effizienz des Unternehmens zu steigern und somit private Investitionen zu fördern. Eine Reihe von finanziellen Manövern und Spekulationen führten aber zu einem jahrzehntelangen Niedergang. Im Wesentlichen geriet das Unternehmen ins Visier von Private-Equity-Fonds, die mehrmals die Kontrolle über das Unternehmen übernahmen und es bei jedem Wechsel mit immer höheren Schulden belasteten.

Die Privatisierung führte zu massiven Entlassungen und einem Rückgang der lokalen Kontrolle über ein wichtiges Kommunikationsunternehmen. Die negativen Auswirkungen erstreckten sich auf die ganze italienische Wirtschaft. Arbeitslosigkeit und Einkommensungleichheit nahmen zu, während die öffentliche Infrastruktur litt.

Dieselbe wirtschaftliche Politik, mit der Draghi Italien beschädigt hat, möchte er nun auf europäischer Ebene fortsetzen. „Der größte Teil der Investitionslücke muss durch private Investitionen gedeckt werden“, sagte Draghi in La Hulpe mit Blick auf die wachsenden militärischen Ausgaben der EU. Sein Vorgehen birgt das Risiko, dass sich der Staat wieder abhängig macht von Unternehmen und am Ende Steuergelder falsch einsetzen muss.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gilt als Unterstützer Draghis. Macron ist wie Draghi ein ehemaliger Investmentbanker. Der Franzose verfolgt einen opportunistischen Kurs: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine stellte er sich noch als Friedensvermittler dar. Er telefonierte mehrmals mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und wickelte trotz Sanktionen weiterhin Geschäfte mit Russland ab. Kurz vor den bevorstehenden EU-Wahlen kam dann die Metamorphose: Macron begann nun, für eine härtere Haltung gegenüber Russland zu werben und den Einsatz von Nato-Truppen zu fordern.

Diesbezüglich scheint der Vertrag über eine verstärkte bilaterale Zusammenarbeit zwischen Italien und Frankreich äußerst relevant zu sein. Am 26. November 2021 unterzeichneten Macron und der damalige Ministerpräsident Draghi den Vertrag unter der Aufsicht von Präsident Mattarella. Eine parlamentarische Abstimmung war dafür nicht nötig.

In dem 15-seitigen Dokument sprachen die Länder insbesondere ihre gemeinsame Absicht aus, die europäische Verteidigung zu stärken und die Abschreckungstaktik der Nato zu unterstützen. Die Europäische Union und die Nato seien dazu bestimmt, strategische Partner zu sein, die sich gegenseitig unterstützten, hieß es.

„Die Parteien verpflichten sich, die Zusammenarbeit und den Austausch sowohl zwischen ihren Streitkräften als auch im Bereich der Verteidigungsmaterialien und Ausrüstungen zu fördern und ehrgeizige Synergien auf den Ebenen der Fähigkeiten und des operativen Einsatzes zu entwickeln, wann immer ihre strategischen Interessen übereinstimmen“, lautet der zweite Artikel des Vertrags.

Jetzt könnte Macron einen neuen Partner direkt an der Spitze der EU-Kommission bekommen und ein neues Europa auf der französisch-italienischen Achse bauen, das auf militärischer Aufrüstung basiert und eine Nebenrolle für Deutschland vorsieht. Am Donnerstag gab Bloomberg bekannt, dass Italien und Frankreich konkrete Gespräche über Draghi führen.

Wenn es um die Finanzierung des neuen militärischen Projekts Europas geht, scheint Mario Draghi mit seiner Expertise der richtige Mann zu sein. In La Hulpe versprach er nicht nur eine „radikale Veränderung“ der europäischen politischen Strategie, sondern eine komplette Umgestaltung der internen Wirtschaft – hin zu einer Wende in der Rüstungsindustrie.

Draghi warb für eine Kapitalmarktunion und schlug die Entwicklung eines „neuen strategischen Instruments“ zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik der EU vor. Er machte klar, dass die Aufrüstung ohne die Mitfinanzierung der Banken nicht möglich sei.

Ende Februar hat das EU-Parlament die Europäische Investitionsbank (EIB) aufgefordert, ihre Beschränkungen für die Finanzierung der Rüstungsindustrie aufzuheben. Das heißt: mehr Schulden für Rüstungsausgaben zu erlauben. Ein erstes Anzeichen dafür, dass Draghi an die Spitze der EU gewählt werden könnte? Macron dürfte es gefallen.

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Was Mario Draghi als EU-Kommissionschef für Deutschland bedeuten würde

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25.04.2024

Aktuell sorgt eine Rede von Mario Draghi für eine neue Grundsatzdiskussion in der Europäischen Union (EU). Wie soll sich die EU nach den Wahlen entwickeln? Welchen Weg soll das Bündnis mit Blick auf den weitergehenden Krieg in der Ukraine einschlagen? Und wer soll an der Spitze der EU stehen? Mit der Hilfe des französischen Präsidenten Emmanuel Macron könnte Draghi bald EU-Kommissionschef werden. Welche Folgen würde dies für Deutschland haben?

Vergangene Woche sprach der Italiener im Brüsseler Vorort La Hulpe und stellte sein politisches Manifest für Europa vor. Die EU-Kommission hat ihn gebeten, einen Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu verfassen. Es hörte sich zugleich wie ein Bewerbungsgespräch für die Präsidentschaft der EU-Kommission an.

In den knapp zwanzig Minuten sprach Draghi über mehrere Punkte, die ihm am Herzen liegen – von der globalen wirtschaftlichen Umgestaltung bis zur „klimaneutralen“ Versorgung Europas. Andere Länder würden sich „nicht mehr an die Regeln halten“, sagte er. Draghi kritisierte China, aber auch die Vereinigten Staaten. Es brauche ein Europa, das fürs „Heute und Morgen“ gerüstet sei.

„Wir können die gemeinsame Kapazität der EU besser nutzen, insbesondere in Bereichen wie der Verteidigung, wo fragmentierte Ausgaben unsere Gesamtwirksamkeit verringern“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler. Ihm zufolge sollten EU-Mitgliedstaaten eine gemeinsame politische Handlung anstreben, um effizienter zu sein – und zwar „immer“ und in allen wichtigen Punkten.

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23.04.2024

Der Alte Kontinent sei „auf die Welt von gestern ausgerichtet“. Die Zeiten hätten sich geändert, meint Draghi, und so auch die Herausforderungen. Von Corona und dem Ukrainekrieg bis zu den Konflikten im Nahen Osten. Europa müsse auf die Folgen dieser Konflikte vorbereitet sein. Die „Rivalität zwischen den Großmächten“ sei zurückgekehrt. Die Verteidigung der Europäischen Union sprach Draghi in seiner Rede mehrmals an.

Wer zwischen den Zeilen las, konnte Europas neue Mission erahnen – und zwar die militärische Aufrüstung des Kontinents. Dafür bräuchte es aber eine einheitliche Ausrichtung, die für alle EU-Mitglieder gelten müsste, so Draghi. „Um den neuen Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnissen gerecht zu werden, müssen wir unsere gemeinsamen Militär-Beschaffungen verstärken“, sagte Draghi. Die Koordinierung der europäischen Ausgaben solle erhöht und die internationale Abhängigkeit der EU von Drittstaaten verringert werden.

Vor Draghis Auftritt schien noch eine Wiederwahl der amtierenden Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) das wahrscheinlichste Szenario zu sein. Doch auf die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin erhöht sich in letzter Zeit wegen des Pfizergates der politische Druck. Ist das Draghis Chance?

The Declaration we’ve just........

© Berliner Zeitung


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