Auf einem lila-gelben Fahrrad mit dicken Reifen flitzt ein Rider am Rosenthaler Platz trotz roter Ampel über die Kreuzung. Seine Tragetasche ist voller Lebensmittel, die schnell ausgeliefert werden müssen – am besten in zehn Minuten. Mit diesem Versprechen hat der türkische Lebensmittel-Lieferservice Getir in kurzer Zeit Europa erobert – doch diese Zeiten scheinen vorbei.

Nun soll sich der Schnell-Lieferdienst zusammen mit dem 2022 übernommenen Berliner Wettbewerber Gorillas schon Mitte Mai aus Deutschland zurückziehen. Einige der 1800 Getir-Angestellten in Deutschland hätten bereits ihre Kündigung erhalten, berichtete die Wirtschaftswoche. Warenlager sollen in den kommenden drei Wochen nach und nach geschlossen werden. Was passiert gerade mit den Lieferdiensten?

„In der Gründungsphase hatten Lebensmittellieferanten, wie zum Beispiel Gorillas, eine sehr starke Marktbewertung“, erklärt Erik Maier, Professor für Handel und Marketing an der Leipzig Graduate School of Management der Berliner Zeitung. Der Markt selbst war noch vor sieben, acht Jahren relativ neu. Doch nun gehe alles in Richtung einer Konsolidierung des Marktes. Ende 2021 wurde das Berliner Start-up Gorillas auf einen Wert von circa drei Milliarden Euro geschätzt. Ein Jahr später hatte Getir den Konkurrenten für vermutlich 1,1 Milliarden Euro übernommen.

Während der Pandemie erlebten die Lieferdienste einen Boom. Lockdowns und Ausgangssperren brachten mehr Menschen dazu, von zu Hause aus zu bestellen. Der Umsatz mit Lebensmitteln im Online-Handel betrug im Jahr 2019 noch 1,5 Milliarden Euro. Ein Jahr später waren es schon 2,6 Milliarden Euro. In den Jahren 2021 und 2022 gaben deutsche Konsumenten online rund vier Milliarden Euro für Lebensmittel aus.

gestern

27.04.2024

27.04.2024

Junge Lebensmittel-Lieferdienste konnten damals mit üppigen Finanzierungen rechnen. Investoren wie Tiger Global Management und Sequoia Capital steckten im Jahr 2021 hunderte Millionen in Getir und verhalfen dem Lieferdienst zu einem raschen Wachstum. Doch das Geschäftsmodell erwies sich schnell als unprofitabel.

„Das Interessante ist, dass dieser Markt sich aktuell so wenig attraktiv entwickelt“, sagt Maier. „Es kommt eher zu einer Konsolidierung, weil den Investoren das Geld ausgeht.“

Der Hauptinvestor von Getir ist Mubadala, ein Staatsfonds mit Sitz in Abu Dhabi. Mubadala ist zugleich an Flink beteiligt, wenn auch nur in geringem Maße. Der emiratische Fonds soll sich vor kurzem für den Kauf von Flink durch Getir eingesetzt haben, doch ohne Erfolg. Zu Marktgerüchten und den Aussichten „äußern wir uns aktuell nicht“, antwortete Getir auf Anfrage der Berliner Zeitung.

Flink ist in Deutschland bei der Lieferung von Artikeln des täglichen Bedarfs mit Abstand Marktführer. Der Marktanteil des Berliner Start-ups im Bereich Lebensmittel wird auf über 80 Prozent geschätzt. Flinks Umsatz beläuft sich laut Angaben des Unternehmens jährlich auf 560 Millionen Euro, was doppelt so viel ist wie bei Getir. Nach dem Rückzug von Getir und Gorillas aus Deutschland wäre dieser Markt vollständig von Flink dominiert.

„Für Getir und Gorillas wäre es das schlechteste Szenario“, sagt Maier. Sie würden nicht von Konkurrenten übernommen und könnten auch selbst nicht strategisch übernehmen, sondern nur noch Verluste machen. „Sie haben viel in den deutschen und westeuropäischen Markt investiert, ohne in den letzten Jahren Gewinne erzielt zu haben“, erklärt der Marktkenner.

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Nach der Übernahme von Gorillas ging es für Getir nur bergab. Im Juli 2023 hieß es, dass der Lieferdienst über 80 Millionen Euro im Monat verbrannte. Kurz danach kündigte Getir den Rückzug aus Spanien, Portugal und Italien an. Es folgte ein massiver Stellenabbau, das Unternehmen behauptete, das Geschäft in Europa vor allem auf Deutschland konzentrieren zu wollen. Danach zog sich Getir aus 17 von 23 deutschen Städten zurück. Nun wird der Schnelllieferdienst in Europa bald Geschichte sein.

Im September schloss Getir eine Finanzierungsrunde im Wert von 456 Millionen Euro. Durch die Investition des früheren Sequoia-Partners Michael Moritz sowie von Mubadala, G Squared und Discovery Ventures erhielt Getir eine Firmenbewertung von 2,3 Milliarden Euro. Ein deutlicher Unterschied im Vergleich zur Zeit vor der Coronakrise. Damals wurde der Unternehmenswert auf rund elf Milliarden Euro geschätzt.

Woran liegt dieser Einbruch? Laut Maier haben Quick-Commerce-Lieferdienste auf das falsche Pferd gesetzt: die Schnelligkeit. „Diese Geschwindigkeit macht einfach einen Teil der Profitabilität des Geschäftsmodells aus“, sagt der Experte. Um das Versprechen einer Lieferung innerhalb von zehn Minuten einzuhalten, hätten Lieferdienste wie Getir zu viele Mitarbeiter und Lager nahe aneinander in den Städten aufbauen müssen. Die Kosten hätten sich rasant erhöht. Jedoch scheint dies nur ein kleiner Teil des Problems zu sein: „Auch langsamere Lieferdienste schaffen es kaum, profitabel zu arbeiten“, sagt Maier.

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Bei Lebensmittellieferanten hätten auch Skandale beim Umgang mit dem Personal kein gutes Unternehmensimage gebracht. „Das hat natürlich nicht geholfen, um Loyalität und Markenaufbau für diese Lebensmittel-Lieferdienste zu erzeugen“, so Maier. Im Allgemeinen sind die Beschäftigungsbedingungen bei Lieferdiensten für die Kuriere oft nachteilig – und das nicht nur bei Lebensmittellieferanten. In der Gastronomie müssen Lieferanten nicht binnen zehn Minuten liefern, doch Fahrer werden trotzdem dazu gebracht, ordentlich in die Pedalen zu treten.

So viel zum Markt der Lebensmittel-Lieferdienste. Bei Lieferungen von Fertigprodukten aus der Gastronomie liegt Lieferando mit einem Marktanteil von 76 Prozent weit vorn. Bei Lieferando gibt es zum Beispiel ein Bonussystem, das eine höhere Bezahlung bei mehreren Bestellungen vorhersieht. „Es wurde eine Anreizstruktur geschaffen, die Beschäftigte dazu bringt, riskant zu fahren“, sagt Veit Groß, Gewerkschaftssekretär von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in der Region Berlin-Brandenburg, der Berliner Zeitung.

An diesem Freitag haben deutsche und niederländische Essenskuriere vor der Zentrale des Lieferando-Mutterkonzerns Just Eat Take Away in Amsterdam protestiert. Rund 7000 Menschen arbeiten nur in Deutschland bei Lieferando. „Wir wollen in dieser Branche keinen Wilden Westen mehr, sondern eine Lage schaffen, in der Beschäftigte mitbestimmen können“, so Groß. Ein Tarifvertrag würde nach seiner Meinung ein besseres Anreizsystem für Beschäftigte schaffen und gefährliches Fahren minimieren.

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Kürzlich wurde vom EU-Parlament eine Plattformrichtlinie verabschiedet, die darauf abzielt, die Arbeitsbedingungen und Rechte von Plattformarbeitnehmern bei Lieferando, Uber Eats und Wolt zu verbessern. Dazu gehören unter anderem Maßnahmen zur Vermeidung von Scheinselbständigkeit.

Die EU-Richtlinie soll zudem mehr Schutz für die Verbraucher schaffen. Demnach sind Unternehmen, die über digitale Plattformen und Apps Lieferungen von Restaurants an Endkunden abwickeln, dazu verpflichtet, mehr Transparenz über die Funktionsweise ihrer Algorithmen zu bieten.

„Mit der Richtlinie werden endlich diejenigen Anbieter, die Festanstellungen vermeiden und stattdessen bei der Auslieferung der Bestellungen auf ein Heer von Scheinselbständigen setzen, an die Kandare genommen“, sagt der Vorsitzende der NGG Guido Zeitler.

Die Gewerkschaft begrüßt die EU-Richtlinie und hofft, dass die Bundesregierung sie rasch umsetzt. Gastronomie-Lieferdienste stehen vor großen Herausforderungen, denn nationale Regierungen könnten ihre eigenen Regelungen einführen und somit die Expansion von kleineren Anbietern erschweren. Lieferdienste wie Lieferando, die bereits auf fest angestellte Kuriere setzen, könnten von der Regulierung profitieren und die Konsolidierung in der Branche vorantreiben.

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Lieferdienste verlassen Deutschland: „Das schlimmste Szenario für Getir und Gorillas“

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29.04.2024

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Während der Pandemie erlebten die Lieferdienste einen Boom. Lockdowns und Ausgangssperren brachten mehr Menschen dazu, von zu Hause aus zu bestellen. Der Umsatz mit Lebensmitteln im Online-Handel betrug im Jahr 2019 noch 1,5 Milliarden Euro. Ein Jahr später waren es schon 2,6 Milliarden Euro. In den Jahren 2021 und 2022 gaben deutsche Konsumenten online rund vier Milliarden Euro für Lebensmittel aus.

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27.04.2024

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