„Befreit Julian Assange!“, singen ein Dutzend Menschen ununterbrochen am frühen Morgen vor dem Londoner High Court. Seit Dienstag findet in der britischen Hauptstadt eine zweitägige Anhörung im Fall des WikiLeaks-Gründers statt. Dem 52-Jährigen droht die Auslieferung in die Vereinigten Staaten, eine Freiheitsstrafe von bis zu 175 Jahren und im schlimmsten Fall sogar die Todesstrafe. Das Leben des Australiers befindet sich nun in den Händen von lediglich zwei Richtern: Victoria Sharp und Justice Johnson, Vorsitzende der King's Bench Division.

Vor der St. Clement Danes Kirche, einige Meter entfernt vom viktorianischen Justizgebäude, steht seit gestern ein weißes Zelt. Davor wurde eine kleine Bühne aufgebaut. Viele sind nach London gekommen, um Assanges Freilassung zu fordern. Den Reden nach zu urteilen, geht es nicht nur um Assanges Zukunft, sondern um die des investigativen Journalismus und der Pressefreiheit im Allgemeinen.

„Wir sind der Widerstand!“, ruft Davide Dormino von der Bühne und erhält Applaus von der mittlerweile klitschnassen Menschenmenge. Der italienische Künstler kam vor über zehn Jahren das erste Mal in Kontakt mit der Enthüllungsplattform WikiLeaks, seitdem setzt er sich in seiner Kunst auch für die Freilassung des australischen Aktivisten ein. „Assange hat uns beigebracht, dass unsere Vorstellungskraft die Realität beeinflussen kann“, sagt Dormino der Berliner Zeitung.

20.02.2024

•gestern

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20.02.2024

•gestern

„Er hat sich eine andere Welt vorgestellt, eine, die verbessert werden sollte, und mit WikiLeaks hat er es uns ermöglicht, unseren kritischen Geist zu beherrschen“, erklärt der Künstler aus Rom. Der sei die einzige Waffe, die wir haben, um uns zu verteidigen.

Im Mai 2015 erlangte Dormino internationale Bekanntheit mit seiner Skulptur „Anything to say?“ – aus dem Englischen übersetzt „Irgendetwas zu sagen?“ –, die er erstmals am Alexanderplatz in Berlin aufstellte. Danach tourte das Kunstwerk durch ganz Europa.

Es handelt sich um eine Bronzeskulptur, die die Whistleblower Edward Snowden und Chelsea Manning darstellt, sowie WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Sie stehen auf drei Stühlen, ein vierter Stuhl steht leer. Durch den vierten leeren Platz werden die Menschen ermutigt aufzustehen und nicht sitzen zu bleiben. Die Skulptur ist der Meinungs- und Informationsfreiheit gewidmet. Laut Dormino steht sie hier auf dem Spiel.

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Am Dienstag trugen Assanges Verteidiger, Edward Fitzgerald und Mark Summers, etwa sechs Stunden lang im Court Room 5 vor. Ihnen zufolge ist das gesamte Verfahren „politisch motiviert“, daher sei eine Auslieferung an die Vereinigten Staaten illegal. Die Anklage der Vereinigten Staaten unter dem Espionage Act, ein Gesetz, das im Ersten Weltkrieg verfasst wurde, lasse keine Zweifel. Einmal in den USA, habe Assange keine Chance auf einen fairen Prozess.

Die Auslieferung selbst wäre ein Verstoß gegen den Auslieferungsvertrag zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien aus dem Jahr 2003, sagte Fitzgerald. Der Anwalt erklärt, dass es eindeutige Beweise gebe, dass in Kreisen des Weißen Hauses sogar die Entführung und Ermordung des Aktivisten diskutiert worden seien.

Stella Assange: "This case is about whether state crimes can continue unpunished, unscrutinized - Julian's freedom is the only antidote. Julian Assange is the worlds most famous political prisoner...and the world is watching" @Stella_Assange #FreeAssange #FreeAssangeNOW pic.twitter.com/jlgbu3QPsr

Der Jurist bezog sich dabei auf einen Bericht von Yahoo News, der im September 2021 für Aufruhr sorgte. Während der Trump-Regierung seien unter dem damaligen Leiter der Central Intelligence Agency (CIA), Mike Pompeo, solche Pläne entstanden. „Dies sollte genügen, um den ganzen Prozess platzen zu lassen“, sagte WikiLeaks-Chefredakteur Kristinn Hrafnsson in einer Rede kurz nach dem ersten Anhörungstag.

Am Mittwochvormittag ist die Anklage an der Reihe. Richterin Sharp eröffnet die Anhörung pünktlich um 10.30 Uhr mit einer Entschuldigung, insbesondere gegenüber der Presse, wegen der anhaltenden technischen Probleme, die es seit Dienstag den anwesenden Journalisten erschweren, den Fall zu verfolgen und darüber zu berichten. Doch es stellt sich bald heraus: Auch der zweite Anhörungstag wird für Medienvertreter schwierig zu verfolgen sein.

Die meisten Pressemitglieder befinden sich nämlich nicht im Gerichtssaal, wo die Anhörung stattfindet, sondern in einem Nebenraum, wo zwei Bildschirme und eine Lautsprecheranlage aufgebaut sind. Es gibt weder Tische noch Steckdosen, die Laptops sitzen auf den Knien der Journalisten, die gebückt, fleißig tippen – in der Hoffnung, dass die Batterie nicht schlapp macht.

Einige Minuten nach Eröffnung der Verhandlung muss diese bereits wieder unterbrochen werden. Der Ton funktioniert nicht, im überfüllten Court Room 3 kann man kein Wort verstehen. Nach einem Einsatz der Techniker scheint das Problem vorerst gelöst, doch Pressevertreter werden darauf hingewiesen, dass es auch weiterhin zu Störungen kommen kann. Das sei im Londoner Gericht üblich, sagen Journalisten, die in der britischen Hauptstadt leben.

Doch manche sehen dahinter eine bewusste Sabotage der Medienberichterstattung. „Sie versuchen den Zugang zur Anhörung zu blockieren“, sagt Journalist Joe Lauria der Berliner Zeitung. Er hat gerade vor dem Eingang des Royal Court of Justice kurzfristig Schutz vor dem Regen gefunden. Der langjährige Korrespondent bei den Vereinten Nationen hat einen Platz im Hauptsaal bekommen, er könne zumindest hören, was gesagt wird.

Wie bereits am Vortag ist Assanges Platz im Court 5 leer. Sein Gesundheitszustand habe ihm nicht ermöglicht, am „Tag X“, wie ihn die Demonstranten nennen, anwesend zu sein. Laut einem Bericht von Reporter ohne Grenzen habe sich der Australier sogar durch zu starken Husten eine Rippe gebrochen. Der Käfig neben dem Gerichtspult, der Angeklagte mit dicken, schwarzen Stahlgittern gefangen halten soll, ist verwaist.

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„Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich von Tag zu Tag“, sagte die Ehefrau des Aktivisten, Stella Assange, am Montagabend während einer Veranstaltung im Frontline Club. Der Prozess selbst diene als Strafe für Julian Assanges Enthüllungen. Während ein endgültiges Urteil des britischen Gerichts fristlos verschoben wird, vergeht die Zeit in Assanges Zelle besonders langsam. „Er wird sterben“, sagte Stella Assange, wenn die Auslieferung ihres Ehemannes in die USA Wirklichkeit werden sollte.

Während der Mittagspause ist vor und in den Royal Courts of Justice viel los. Einige verschlingen italienische Panini, die in einem Laden gegenüber dem Gericht zubereitet werden. Andere sind auf der Suche nach Ansprechpartnern. So wie Juan Passarelli, ein Dokumentarist aus Guatemala, der gerade ein Interview geführt hat. „Assange wird beschuldigt, geheime Dokumente erhalten und veröffentlicht zu haben. Das tun Journalisten jeden Tag“, sagt Passarelli.

Der Dokumentarist hat Assange fast seit der Gründung von WikiLeaks begleitet und gefilmt. Seiner Meinung nach sei das Interesse der Medien gesunken, weil sich der Fall mittlerweile so lange hinzieht. „Diese Anhörung ist die Kulmination eines 18 Monate langen Verfahrens, durch das Assange nur fragt, Berufung einlegen zu dürfen“, so Passarelli.

Der beste Ausgang der Anhörung könnte ihm zufolge nur weitere Zeit im Gefängnis für Assange bedeuten, während der Aktivist weiterhin darauf warten muss, eventuell Berufung einlegen zu dürfen. „Ich bezweifle, dass die Richter heute ein Urteil fällen werden“, sagt der Dokumentarist. Er richtet sich seinen langen schwarzen Mantel zurecht, dann muss er schon gehen. Ein Interview steht an.

In der Zwischenzeit ist die Anhörung wieder im Gange. Die amerikanische Staatsanwaltschaft, vertreten von Claire Dobbin, James Lewis und Joel Smith, listet Punkte auf, weswegen ihrer Meinung nach Assange das Recht auf Berufung verweigert werden sollte. Er habe unter anderem durch die Veröffentlichung von unzensierten Dokumenten das Leben anderer aufs Spiel gesetzt. Die Vereinigten Staaten beschuldigen Assange auch, der Whistleblowerin Chelsea Manning geholfen zu haben, staatliche Archive zu hacken.

2010 veröffentlichte WikiLeaks Hunderttausende Dokumente, unter anderem über Kriegsverbrechen des amerikanischen Militärs in den Kriegen im Irak und Afghanistan. Laut der Anklage habe Assange „bewusst unzensierte Dokumente veröffentlicht“ und somit Menschen in Lebensgefahr gebracht. In ihrem Werk „Die Geheime Macht – WikiLeaks und seine Feinde“ belegte die Journalistin Stefania Maurizi jedoch das Gegenteil. WikiLeaks habe alles getan, um beteiligte Personen zu schützen.

Die Schuldigen an unmenschlichen Kriegsverbrechen wurden nie zur Rechenschaft gezogen, dafür wird Assange von den Vereinigten Staaten mit 17 Anklagepunkten unter dem Espionage Act verfolgt und einem Punkt unter dem Computer Fraud and Abuse Act (CFAA), wegen der Art und Weise, wie der Aktivist die Dokumente erhalten und veröffentlicht haben soll.

„Die Anklage hat journalistische Praxis beschrieben und behauptet, dass das ein Verbrechen sei“, sagt Joe Lauria. Er könne es nicht fassen, dass die amerikanische Staatsanwaltschaft dieselben Punkte wiederholt hat, die bereits seit längerer Zeit bestritten werden. Er sitzt mittlerweile wieder im Gerichtssaal und verfolgt aufmerksam die Aussagen der Anklage in erster Reihe.

Und dann neigt sich auch der seit langem erwartete „Tag X“ dem Ende zu. Wie zu erwarten war, entzieht sich das Gericht einer endgültigen Entscheidung und akzeptiert am Nachmittag einige Punkte von Assanges Verteidigung. Ein genaues Datum für ein Urteil wurde nicht festgelegt, es könnten Tage oder Wochen sein. Richterin Sharp erklärte, dass das Gremium sich an die Parteien wenden würde, wenn weitere Informationen benötigt werden sollten.

To date Julian Assange has spent 1771 days in a UK prison for publishing which revealed war crimes and human rights abuses

Assange has spent more than 13 years detained in one form or another

If extradited to the US he faces a 175 year sentence in conditions the UN's torture… pic.twitter.com/P3QPpDiPsT

Assange wird also noch nicht an das Land ausgeliefert, das womöglich seinen Tod auf höchster politischer Ebene diskutiert hat. Der Aktivist wird jedoch weiterhin in einer kleinen, lichtlosen Zelle aufwachen, ohne zu wissen, was als nächstes ihm passiert. Am Abend marschieren Hunderte Menschen zum Sitz des britischen Premierministers, Rishi Sunak. Vor Downing Street 10 bitten die Demonstranten abermals um Assanges Freilassung.

Weil ein rechtliches Urteil schwierig, wenn nicht unmöglich scheint, wird der Australier Tag für Tag psychisch bestraft. Die meisten westlichen Medien berichten jedoch wenig. Sie schreiben über den bereits verstorbenen Alexei Nawalny und sehen nicht ein, dass es womöglich Parallelen zwischen Russland und Großbritannien gibt. Ein wenig wie in José Saramagos Buch „Die Stadt der Blinden“, wo eine Epidemie den Menschen die Sehkraft raubt, scheinen Menschen im Fall Assange beim Zeitunglesen blind zu werden.

QOSHE - Der Schauprozess um Julian Assange zeigt: Das Verfahren selbst ist die Strafe - Franz Becchi
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Der Schauprozess um Julian Assange zeigt: Das Verfahren selbst ist die Strafe

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22.02.2024

„Befreit Julian Assange!“, singen ein Dutzend Menschen ununterbrochen am frühen Morgen vor dem Londoner High Court. Seit Dienstag findet in der britischen Hauptstadt eine zweitägige Anhörung im Fall des WikiLeaks-Gründers statt. Dem 52-Jährigen droht die Auslieferung in die Vereinigten Staaten, eine Freiheitsstrafe von bis zu 175 Jahren und im schlimmsten Fall sogar die Todesstrafe. Das Leben des Australiers befindet sich nun in den Händen von lediglich zwei Richtern: Victoria Sharp und Justice Johnson, Vorsitzende der King's Bench Division.

Vor der St. Clement Danes Kirche, einige Meter entfernt vom viktorianischen Justizgebäude, steht seit gestern ein weißes Zelt. Davor wurde eine kleine Bühne aufgebaut. Viele sind nach London gekommen, um Assanges Freilassung zu fordern. Den Reden nach zu urteilen, geht es nicht nur um Assanges Zukunft, sondern um die des investigativen Journalismus und der Pressefreiheit im Allgemeinen.

„Wir sind der Widerstand!“, ruft Davide Dormino von der Bühne und erhält Applaus von der mittlerweile klitschnassen Menschenmenge. Der italienische Künstler kam vor über zehn Jahren das erste Mal in Kontakt mit der Enthüllungsplattform WikiLeaks, seitdem setzt er sich in seiner Kunst auch für die Freilassung des australischen Aktivisten ein. „Assange hat uns beigebracht, dass unsere Vorstellungskraft die Realität beeinflussen kann“, sagt Dormino der Berliner Zeitung.

20.02.2024

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20.02.2024

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Im Mai 2015 erlangte Dormino internationale Bekanntheit mit seiner Skulptur „Anything to say?“ – aus dem Englischen übersetzt „Irgendetwas zu sagen?“ –, die er erstmals am Alexanderplatz in Berlin aufstellte. Danach tourte das Kunstwerk durch ganz Europa.

Es handelt sich um eine Bronzeskulptur, die die Whistleblower Edward Snowden und Chelsea Manning darstellt, sowie WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Sie stehen auf drei Stühlen, ein vierter Stuhl steht leer. Durch den vierten leeren Platz werden die Menschen ermutigt aufzustehen und nicht sitzen zu bleiben. Die Skulptur ist der Meinungs- und Informationsfreiheit gewidmet. Laut Dormino steht sie hier auf dem Spiel.

Letzter Aufruf für Assange – Sevim Dagdelen: „Es ist ein Tod auf Raten“

15.02.2024

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19.02.2024

Am Dienstag trugen Assanges Verteidiger, Edward Fitzgerald und Mark Summers, etwa sechs Stunden lang im Court Room 5 vor. Ihnen zufolge ist das gesamte Verfahren „politisch motiviert“, daher sei eine Auslieferung an die Vereinigten........

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