Um neue Phänomene hierzulande einzuordnen, hilft oft ein Blick nach Amerika. Und dies nicht nur, wenn es etwa um Spielarten der Mode oder der Popkultur geht – auch in der politischen Kultur ist man in den Vereinigten Staaten schon seit einer Weile dort, wohin auch Deutschland allmählich zu driften droht.

So wurde in Arizona im letzten Jahr ein Mann zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, der – entfesselt von Verschwörungslügen über systematischen Wahlbetrug in seinem Bundesstaat – mehrere mit den dortigen Wahlen befasste Amtsträger und deren Familien mit dem Tode bedroht hat, darunter den Kreiswahlleiter und den Bezirksstaatsanwalt von Maricopa County.

Man muss nicht dreimal raten, wie der Mann wohl dazu kam, allerlei verrückte, aufwühlende und natürlich komplett unwahre Dinge über den Wahlprozess als solchen, aber auch die zurückliegenden beiden Wahlen im Speziellen zu glauben: Donald Trump, 2020 bei den Präsidentschaftswahlen unterlegen, und Kari Lake, 2022 bei den Gouverneurswahlen gescheitert, verbreiten sie bis heute. Dass der bedrohte Bezirksanwalt Tom Liddy wie sie selbst Republikaner ist, zumal der Sohn des sagenumwobenen früheren Nixon-Beraters Gordon Liddy, ist da unerheblich. Leute wie er werden von Trump, Lake und Freunden als „Rinos“ diffamiert, als „Republicans in name only“.

Damit sind sie in etwa in einer Reihe mit den „leftist thugs“, den „linksradikalen Schurken“, als die Joe Biden, seine Demokratische Partei und andere politische Gegner beschimpft werden – an normalen Tagen. An anderen entfährt Donald Trump auch mal der Satz: „Wir versprechen, dass wir die Kommunisten, Marxisten, Faschisten und linksradikalen Schurken, die wie Ungeziefer in unserem Land leben, ausrotten werden.“ Kann es sein, dass der eine oder andere im Übereifer schon mal anfängt mit der Schädlingsbekämpfung?

gestern

03.05.2024

•heute

Ende Februar dieses Jahres verhaftete die Polizei einen Mann in Montana, der über Wochen den demokratischen Senator Jon Tester gestalkt und mit zunehmend aggressiven Sprachnachrichten terrorisiert hatte. In seiner Wohnung fanden die Beamten vier Schrotflinten, fünf Gewehre, acht Pistolen, einen selbstgebastelten Schalldämpfer und 1200 Schuss Munition. Vor Gericht bekannte sich der Mann schuldig, dass er einem Senator der Vereinigten Staaten Gewalt hatte antun wollen, und er wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

CNN berichtete jüngst von einem bedenklichen Anstieg an Bedrohungen politischer Amtsträger und auch konkreten Angriffen auf diese in den letzten vier Jahren, mithin seit der Abwahl Trumps. Allein in diesem Jahr, das noch nicht einmal zur Hälfte rum ist, habe die US Capitol Police bereits 7300 Fälle registriert. Die Washington Post schreibt in diesem Zusammenhang von einem „Schatten, der auf den Wahlkampf von 2024 geworfen wird“. Besagte Kari Lake, mögliche Kandidatin für die Vizepräsidentschaft unter Donald Trump, läutete diesen jüngst mit der Kunde ein, die nächsten sechs Monate würden intensiv, deshalb werde man den Helm aufsetzen, den Gurt fest- und „vielleicht auch eine Glock umschnallen, nur so für den Fall“.

Nicht, dass sie es genau so ausspricht – aber die Botschaft kommt doch an: Im Zweifel muss man den politischen Gegner eben mit der Knarre überzeugen. Der amerikanische Rechtsgelehrte David S. Cohen hat für diese Art von Rhetorik den Begriff „stochastic terrorism“ ins Vokabular eingeführt. Im Groben beschreibt er die Art beziehungsweise Unart hochrangiger Personen, Andersdenkende auf eine Weise zu verunglimpfen, dass es zu Gewalt führen kann – es dem Anstifter jedoch erlaubt, jede Verantwortung von sich zu weisen. Auf die Empörung über ihre Aussage entgegnete Lake lapidar, sie habe lediglich darauf verweisen wollen, dass das Recht auf Waffenbesitz bei ihr unangetastet bleibe.

Prügelattacke auf SPD-Spitzenkandidat: 17-Jähriger stellt sich Polizei

•heute

Angriff auf Matthias Ecke: Mehr als 100 Politiker unterzeichnen Erklärung – Kundgebung in Berlin

•vor 1 Std.

Noch weiß man wenig über den Angriff auf den SPD-Europapolitiker Matthias Ecke am Freitagabend in Dresden. In der Nacht zum Sonntag soll sich ein 17-Jähriger der Polizei gestellt haben, über seine Motive ist nichts bekannt. Zu beobachten ist jedoch generell, dass man auch in Deutschland als politischer Amtsträger zunehmend gefährlich lebt. Ebenso am Freitagabend waren in Essen der Grünen-Bundestagsabgeordnete Kai Gehring und der dritte Bürgermeister der Stadt, Rolf Fliß, angepöbelt und geschlagen worden. Tags zuvor hatte im brandenburgischen Lunow-Stolzenhagen ein aggressiver Mob den Wagen von Karin Göring-Eckardt in Beschlag genommen und die Bundestagsvizepräsidentin und ihren Fahrer eine Dreiviertelstunde lang in Angst und Schrecken versetzt. Und wer erinnert sich nicht mit Grusel an die aufgeheizte Meute, die im nordfriesischen Schlüttsiel Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck daran hinderte, von einer Fähre an Land zu gehen?

All dies sind Alarmzeichen – und Gründe genug, verbal abzurüsten. Aussagen von Politikern wie, die schweigende Mehrheit müsse sich „die Demokratie zurückholen“ oder, wer versuche, die AfD zu richten, „den richtet die AfD“, um nur einige rhetorische Entgleisungen zu nennen, haben im politischen Diskurs in Deutschland nichts verloren. Gott bewahre uns vor amerikanischen Verhältnissen.

QOSHE - Amerikanische Verhältnisse: Prügelattacke auf Politiker und rhetorische Entgleisungen - Christian Seidl
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Amerikanische Verhältnisse: Prügelattacke auf Politiker und rhetorische Entgleisungen

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05.05.2024

Um neue Phänomene hierzulande einzuordnen, hilft oft ein Blick nach Amerika. Und dies nicht nur, wenn es etwa um Spielarten der Mode oder der Popkultur geht – auch in der politischen Kultur ist man in den Vereinigten Staaten schon seit einer Weile dort, wohin auch Deutschland allmählich zu driften droht.

So wurde in Arizona im letzten Jahr ein Mann zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, der – entfesselt von Verschwörungslügen über systematischen Wahlbetrug in seinem Bundesstaat – mehrere mit den dortigen Wahlen befasste Amtsträger und deren Familien mit dem Tode bedroht hat, darunter den Kreiswahlleiter und den Bezirksstaatsanwalt von Maricopa County.

Man muss nicht dreimal raten, wie der Mann wohl dazu kam, allerlei verrückte, aufwühlende und natürlich komplett unwahre Dinge über den Wahlprozess als solchen, aber auch die zurückliegenden beiden Wahlen im Speziellen zu glauben: Donald Trump, 2020 bei den Präsidentschaftswahlen unterlegen, und Kari Lake, 2022 bei den Gouverneurswahlen gescheitert, verbreiten sie bis heute. Dass der bedrohte Bezirksanwalt Tom Liddy wie sie selbst Republikaner ist, zumal der Sohn des sagenumwobenen früheren Nixon-Beraters Gordon Liddy, ist da unerheblich. Leute wie er werden von Trump, Lake und Freunden als „Rinos“ diffamiert, als „Republicans in name only“.

Damit sind sie in etwa in........

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