Am 1. Juni 1944 beherrschen deutsche Truppen fast ganz Europa; drei Monate später stehen die Alliierten an den Grenzen des Reichs. Das Ende des blutigsten Kriegs der Geschichte scheint unmittelbar bevorzustehen, doch es wird weitere acht Monate dauern, in denen noch einmal so viele Menschen wie in den fünf Jahren zuvor sterben werden. Ein Vorabdruck aus dem am 11. Januar bei dtv erscheinendem Buch „Todeswalzer. Der Sommer 1944“ von Christian Bommarius:

Er will nicht gestört werden. Also warum ihn wecken. Seine Nächte sind lang, seine Tage dürfen erst mittags beginnen. Gestern hat er bis tief in die Nacht mit Joseph Goebbels und Eva Braun am Kamin geplaudert. Bis zwei Uhr morgens hat man Erinnerungen ausgetauscht, sich über die „vielen Tage und Wochen“ gefreut, „die wir zusammen erlebt haben“, und „der Führer“ hat sich „nach diesem und jenem“ erkundigt. Ein gemütlicher Abend also, auch wenn auf dem Obersalzberg ein „schauderhaftes Gewitter“ lag. Und wenn die Nacht so spät begonnen hat, dann muss jeder verstehen, dass sie erst zu Ende gehen darf, wenn die Sonne hoch über dem Berghof steht. Für den Schläfer hat das den Vorteil, die Welt möglichst lange mit geschlossenen Augen betrachten zu dürfen, mag ihm so auch die eine oder andere interessante Geschichte verborgen bleiben. Heute zum Beispiel entgeht Hitler, dass in der Nacht sein Untergang begonnen hat. Aber das wird er erst in ein paar Monaten begreifen.

Das Leben meint es zurzeit gut mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Beauvoir hat im vergangenen Jahr mit dem ersten Roman „L’Invitée“ („Sie kam und blieb“) ihren Durchbruch als philosophische Schriftstellerin gefeiert – er ist bei Gallimard erschienen, der Zentralinstanz des französischen Geisteslebens –, Sartre vor einigen Tagen die Uraufführung seines Dramas „Huis Clos“ („Geschlossene Gesellschaft“) im Théâtre du Vieux-Colombier. Am vergangenen Abend haben sie mit Freunden gefeiert, haben getrunken, gelacht, gesungen. Albert Camus, Lektor bei Gallimard, hatte eine junge Schauspielerin mitgebracht, Maria Casarès, Tochter des spanischen Ministerpräsidenten Santiago Casarès, der durch den faschistischen Franco-Putsch mit seiner Familie ins Pariser Exil getrieben worden war. Vor einigen Tagen haben sich die 21 Jahre alte Casarès und der neun Jahre ältere, verheiratete Camus bei einem Picasso gewidmeten Abend kennengelernt und sich sogleich ineinander verliebt. Beauvoir, Sartre, Casarès, Camus – keiner von ihnen wird die Nacht vergessen. Der 6. Juni ist für sie der erste Tag in einer neuen Welt.

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Als Beauvoir nach fünf oder sechs Stunden Schlaf am Morgen erwacht, dringt die Stimme eines Radios durch ihr Fenster: „Sie sagte lang erwartete, unglaubliche Dinge, ich sprang aus dem Bett. Die angloamerikanischen Truppen hatten in der Normandie Fuß gefasst.“ Die Hausgenossen sind überzeugt, Beauvoir und Sartre hätten geheime Informationen gehabt und deshalb schon in der Nacht die Landung gefeiert. So ist es nicht. Aber die Tage, die folgen, sind für das Paar und seine Freunde ein einziges Fest. Der Melancholiker Camus gesteht nach der ersten mit „meiner kleinen Maria“ verbrachten Nacht, „ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als Dich zu verlieren“. Er muss sich keine Gedanken machen. Die Liebe wird ihn durch das Leben tragen. Nur hat er vorläufig nicht ganz so viel Zeit, wie er Maria widmen möchte. Denn Camus ist nicht nur Schriftsteller und Lektor, derzeit schreibt er vor allem Leitartikel in Combat, der Untergrundzeitung der Résistance. Er bekämpft die deutschen Besatzer, aber er hasst die Kollaborateure, die sich den Deutschen zur Verfügung halten und ihre Landsleute verraten. Mit dem Beginn der Invasion ist der Tag der Befreiung näher gerückt und damit auch das letzte Stündlein der Kollaborateure. In den nächsten Wochen wird Camus, angetrieben von der „Kraft der Rache“, ein publizistisches Feuerwerk entfachen.

Die Möglichkeit des Überlebens – Margot hat sie berechnet. Zwei Wege führen aus dem Auffanglager in der früheren Pathologie des Berliner Jüdischen Krankenhauses hinaus, nur einer führt nicht in den sicheren Tod. 15 Monate hat Margot im Untergrund gelebt, hat sich die schwarzen Haare tizianrot gefärbt, hat den Judenstern durch eine Kette mit Kreuz ersetzt, ist der Gestapo dreimal entkommen und ihr schließlich doch ins Netz gegangen, durch Zufall, bei einer Ausweiskontrolle. Sie hatte mit ein paar Freundinnen den überfüllten Bunker am Zoo nach einem schweren Bombenangriff verlassen, als zwei Männer ihnen den Weg verstellten: „Ihre Papiere bitte.“ Auf dem Weg zur Wache hatte sie gestanden: „Ich bin jüdisch.“ Seitdem dachte sie über die zwei Wege aus dem Lager nach. Der eine führt in den Osten, über den Margot nichts weiß, nur dass niemand jemals daraus zurückgekehrt ist. Sie weiß nicht einmal, dass ihre Mutter und ihr Bruder schon im vergangenen Jahr dorthin verschleppt und ermordet worden sind, ins Konzentrationslager Auschwitz. Der zweite Weg führt nach Theresienstadt. Davon erzählt einer, der von dort zurückgekehrt ist. Die Deutschen hatten ihn zurückgeholt, weil er als früherer Angestellter der Jüdischen Gemeinde über deren Finanzen Bescheid weiß und deshalb bei der Enteignung der Gemeinde nützlich sein kann. Seine Frau und seine Tochter mussten bleiben. Er erzählt, nach Theresienstadt würden vor allem Prominente verschleppt, Künstler, Wissenschaftler, Rabbiner, auch alte Menschen, Mischlinge und jüdische Partner aus privilegierten Mischehen. Ende Mai 1944 hat Margot erfahren, dass ein Transport nach Theresienstadt organisiert werde. Nur 23 Leute waren dafür vorgesehen, schreibt Margot, fast ausschließlich Mischlinge und Privilegierte.

Für Margot war klar: „Ich wollte auf diese Transportliste.“ Wenig später hatte sie erfahren, dass ihr Name auf der Liste stand. Als sich die Tore hinter ihr schlossen und ihre Gruppe das Lager in einem Lastwagen verließ, war ihr, als ob ihre Seele nicht mehr in ihrem Körper sei. Sie weiß nicht, wie lange sie auf den Zug am Bahnhof gewartet haben, sie weiß auch nicht, wie lange die Zugfahrt dauerte, denn sie hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren. Aber Margot Friedländer aus Berlin, 22 Jahre alt, weiß, dass sie am 6. Juni 1944 Theresienstadt erreicht. Sie schläft auf dem Dachboden einer Kaserne, auf einem Fußboden aus ungehobelten Holzplanken, die Frauen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen. Alle liegen nur da. Stille.

Von seiner Karriere im Reichsarbeitsdienst hat sich Egon Oelwein etwas mehr erwartet. Er ist, um es klar zu sagen, von ihr so sehr enttäuscht, dass er in diesem Sommer mit einem Wechsel in die Waffen-SS liebäugelt. Die Gründe, warum er es mit seinen 42 Jahren als Diplomlandwirt und unerschütterlicher „Nazi-Deutscher“ noch nicht weiter gebracht als bis zum Arbeitsführer (Major), kennt er nicht. An seiner Gesinnung kann es nicht liegen. Schon früh hat der Sohn des Direktors eines Steinkohlebergwerks mit seiner Herkunft aus dem österreichischen Galizien gebrochen und sich zu seinem „Deutschtum“ bekannt, ist „Reichsdeutscher“ geworden und Mitglied der NSDAP. Die „neue, deutsche und nationalsozialistische Weltanschauung“ betrachtet er als seine geistige „Grundlage“, mit seiner Frau Marta hat er drei kleine Kinder, zu deren nationalsozialistischer Geburtstagsfeier Vater Oelwein im vergangenen September daran erinnerte, dass der „Kampf um die Verbreitung und Erhaltung ihres Deutschtums“ immer „das hervorragendste Merkmal“ seiner bis ins 16. Jahrhundert zurückzuverfolgenden „Sippe“ gewesen sei. Für ihn persönlich verbindet sich die nationalsozialistische Losung, dem Germanentum neuen „Lebensraum“ zu erobern, mit der Aussicht, ein landwirtschaftliches Gut im Osten zu erwerben.

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In dieser Hinsicht hat es sich für Oelwein allerdings in den vergangenen Jahren zum Guten gefügt. Seine Versetzungen haben ihn immer weiter in den Osten geführt, in die eingegliederten Ostgebiete. Nach Anfängen in Baden ging es zunächst in den Reichsgau Sudetenland, sodann nach Oberschlesien, im April 1942 schließlich nach Teschen im östlichen Oberschlesien. Zwar bringt es der Dienst mit sich, dass Egon Oelwein getrennt von seiner Familie in der Ortschaft Wadowitz wohnt. Der kleine Garten, der zu seiner Dienstwohnung des Reichsarbeitsdienstes gehört, ermöglicht es ihm aber, vergleichende Studien zum Jäten des Unkrauts und zum „Ausrotten“ des „Untermenschentums“ anzustellen und in seinem Tagebuch die Resultate zu vermerken: „Das Untermenschentum wuchert, besonders bei ungünstigen Lebensbedingungen, wenn es nicht niedergehalten wird. Drum rücksichtslos ausrotten bzw. nicht hochkommen lassen, und selber noch und noch abhärten.“ Die Trennung Oelweins von seiner Familie ist eine Härte, die ertragen werden muss. Zumal der Wohnort der Familie (Teschen) und der Dienstsitz Egon Oelweins (Wadowitz) recht nah beieinander liegen. Zwischen Teschen und Wadowitz liegt Auschwitz.

Am 6. Juni widmet Egon Oelwein zwei Ereignissen jeweils drei Zeilen in seinem Tagebuch. Er habe dieser Tage bei einem alten Bundesbruder „einen Antrag zur Aufnahme in die Altherrenschaft ‚Graf Götzen‘ – Zusammenschluss der früheren Breslauer Turnerschaften – gestellt“. Und anschließend: „Die Invasion ist endlich im Rollen – entgegen meiner Vermutung, denn damit tun die Alliierten uns nur einen Gefallen. Es muss jedenfalls innenpolitisch sehr mau bei ihnen aussehen.“

Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, beginnt nicht im Frühsommer 1944, auch nicht 1933, sondern Jahre davor: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945“, schrieb Erich Kästner, „hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät (…) Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten.“ Zwei Jahre, nachdem sich die Weimarer Republik ihren Feinden ergeben und ihnen die Zukunft Deutschlands und Europas überlassen hatte, bedankte sich Goebbels auf seine Weise. 1935 erschien im Franz-Eher-Verlag, dem Zentralverlag der NSDAP, eine Auswahl seiner Hetzartikel aus der „Kampfzeit“. Unter der Überschrift „Die Dummheit der Demokratie“ wird kurz und höhnisch erklärt, wie es gelingen konnte, das demokratische System und „die alten Esel“ (Goebbels) – gemeint sind die Parlamentarier – in nur wenigen Jahren auszuschalten. Die Leser dieses Buchs waren nicht die verachteten Demokraten: die Liberalen, die Konservativen, die Sozialdemokraten. Sie waren seit 1933 zu Tausenden in Gefängnisse oder Konzentrationslager geworfen worden, kaltgestellt und mundtot gemacht, sofern sie nicht ermordet worden waren. Mitglieder und Anhänger der NSDAP aber durften sich an der hämischen Rückschau erfreuen: „Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde. Die verfolgten Führer der NSDAP traten als Abgeordnete in den Genuss der Immunität, der Diäten und der Freifahrtkarte. Dadurch waren sie vor dem polizeilichen Zugriff gesichert, durften sich mehr zu sagen erlauben als gewöhnliche Staatsbürger und ließen sich außerdem die Kosten ihrer Tätigkeit vom Feinde bezahlen. Aus der demokratischen Dummheit ließ sich vortrefflich Kapital schlagen.“

Die „demokratische Dummheit“, politische Gegner nicht als Feinde zu betrachten, gehört zum Wesen der Demokratie. Aber der Selbstmord gehört nicht dazu. Wer nicht gezwungen sein will, irgendwann den Todeswalzer zu tanzen, kann nicht aufmerksam genug sein. Wir sind gewarnt.

In der Reihe „Literatur Live“ wird Christian Bommarius’ Buch „Todeswalzer“ am 16. Januar im Pfefferberg-Theater, Schönhauser Allee 176, vorgestellt. Beginn 20 Uhr. Es moderiert Shelly Kupferberg

QOSHE - „Todeswalzer“ von Christian Bommarius: Notizen aus der mörderischen Wirklichkeit - Christian Bommarius
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„Todeswalzer“ von Christian Bommarius: Notizen aus der mörderischen Wirklichkeit

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03.01.2024

Am 1. Juni 1944 beherrschen deutsche Truppen fast ganz Europa; drei Monate später stehen die Alliierten an den Grenzen des Reichs. Das Ende des blutigsten Kriegs der Geschichte scheint unmittelbar bevorzustehen, doch es wird weitere acht Monate dauern, in denen noch einmal so viele Menschen wie in den fünf Jahren zuvor sterben werden. Ein Vorabdruck aus dem am 11. Januar bei dtv erscheinendem Buch „Todeswalzer. Der Sommer 1944“ von Christian Bommarius:

Er will nicht gestört werden. Also warum ihn wecken. Seine Nächte sind lang, seine Tage dürfen erst mittags beginnen. Gestern hat er bis tief in die Nacht mit Joseph Goebbels und Eva Braun am Kamin geplaudert. Bis zwei Uhr morgens hat man Erinnerungen ausgetauscht, sich über die „vielen Tage und Wochen“ gefreut, „die wir zusammen erlebt haben“, und „der Führer“ hat sich „nach diesem und jenem“ erkundigt. Ein gemütlicher Abend also, auch wenn auf dem Obersalzberg ein „schauderhaftes Gewitter“ lag. Und wenn die Nacht so spät begonnen hat, dann muss jeder verstehen, dass sie erst zu Ende gehen darf, wenn die Sonne hoch über dem Berghof steht. Für den Schläfer hat das den Vorteil, die Welt möglichst lange mit geschlossenen Augen betrachten zu dürfen, mag ihm so auch die eine oder andere interessante Geschichte verborgen bleiben. Heute zum Beispiel entgeht Hitler, dass in der Nacht sein Untergang begonnen hat. Aber das wird er erst in ein paar Monaten begreifen.

Das Leben meint es zurzeit gut mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Beauvoir hat im vergangenen Jahr mit dem ersten Roman „L’Invitée“ („Sie kam und blieb“) ihren Durchbruch als philosophische Schriftstellerin gefeiert – er ist bei Gallimard erschienen, der Zentralinstanz des französischen Geisteslebens –, Sartre vor einigen Tagen die Uraufführung seines Dramas „Huis Clos“ („Geschlossene Gesellschaft“) im Théâtre du Vieux-Colombier. Am vergangenen Abend haben sie mit Freunden gefeiert, haben getrunken, gelacht, gesungen. Albert Camus, Lektor bei Gallimard, hatte eine junge Schauspielerin mitgebracht, Maria Casarès, Tochter des spanischen Ministerpräsidenten Santiago Casarès, der durch den faschistischen Franco-Putsch mit seiner Familie ins Pariser Exil getrieben worden war. Vor einigen Tagen haben sich die 21 Jahre alte Casarès und der neun Jahre ältere, verheiratete Camus bei einem Picasso gewidmeten Abend kennengelernt und sich sogleich ineinander verliebt. Beauvoir, Sartre, Casarès, Camus – keiner von ihnen wird die Nacht vergessen. Der 6. Juni ist für sie der erste Tag in einer neuen Welt.

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Als Beauvoir nach fünf oder sechs Stunden Schlaf am Morgen erwacht, dringt die Stimme eines Radios durch ihr Fenster: „Sie sagte lang erwartete, unglaubliche Dinge, ich sprang aus dem Bett.........

© Berliner Zeitung


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