Peter Jacobs ist 85 Jahre alt, unterscheidet sich aber in Gang, Statur und Lebendigkeit nicht von dem Kollegen, den ich in den 1970er-Jahren als besonders erfrischenden und humorvollen Redakteur der Berliner Zeitung kennengelernt habe. Dazu kommt ein Gedächtnis, aus dem er heute, ohne viel nachzudenken, die Namen längst verschollener Mitmenschen zu zahllosen Anekdoten fischt. Wir treffen uns in seiner Wohnung in der Bötzowstraße, die er seit 1981 mit seiner aus Kuba stammenden Frau bewohnt, der Bühnen- und Kostümbildnerin Nancy Torres. Beide machen einen fröhlichen Eindruck und haben nie aufgehört zu arbeiten. Ihre Wohnung steht bis unter die Decke voll mit Kunst und Büchern, ihr Atelier-Haus in Schildow auch. Ein Gespräch mit dem Autor über die Zeitung und sein jüngstes Buch „Der Ostwitz“.

Es gibt viele Bücher mit Witzen, auch über ein abgeschlossenes Sammelgebiet wie den Ostwitz. Dabei altern Witze generell schnell, weil sie auf den Moment reagieren, rasch abgestanden sind.

Witze verlangen einen Kontext. Das war mein Anliegen – damalige Zusammenhänge zu beleuchten, DDR-Leben anhand seiner Witzkultur zu spiegeln. Wie wir versuchten, uns mit Nischenhumor den Kopf freizuhalten, auch über uns selbst lachen zu können. Menschen haben sich Luft gemacht, wenn sie sich über die Verhältnisse aufregten, über die Versorgungslage, die Mauer, die Bevormundung, die peinlichen Staatslenker, die Russen und natürlich die Staatssicherheit, den VEB Horch und Guck. Natürlich ist es auch ein Erinnerungsbuch, der Ostwitz war ja ein Volksvergnügen, erzählt nicht nur auf Familienfeiern, in Kantinen und Kneipen, sondern auch in Betrieben. So viel gelacht wurde nie wieder.

Anfrage bei Radio Jerewan: ‚Sammeln die Genossen der Stasi auch Witze über sich selbst?‘ Antwort: ‚Im Prinzip ja, aber sie sammeln auch Leute, die sie erzählen.‘

24.11.2023

23.11.2023

23.11.2023

Ich selbst kam in den 1970ern erst als Volontärin, Jahre später als Redakteurin zur Berliner Zeitung, erlebte die Atmosphäre in der Redaktion immer als sehr befreiend: Anders als an Schule und Uni machte man sich hier über alles lustig, vor allem über Parteibeschlüsse, das reichte bis zu offenem Zynismus.

Im Witzeerzählen waren wir Komplizen, eine Schicksalsgemeinschaft. Zu dieser gehörten nicht nur widerspenstige Zeitgenossen, sondern auch solche, die das System kritisch mittrugen, wie ich. In der Berliner Zeitung waren Witze und ein lockerer Ton geduldet, man musste keine besondere Vorsicht walten lassen. In anderen Redaktionen bestimmte eher die Parteilinie das Klima.

Verunglückter Versuch: Warum die DDR-Aufarbeitung Ostdeutsche so wütend macht

17.11.2023

Hunger nach Zeitung

19.05.2020

Das hatte natürlich mit Personen zu tun, der langjährige Chefredakteur der Berliner Zeitung Dieter Kerschek war kein Scharfmacher. Es gab Kollegen, mit denen man beim ironischen Erörtern der Weltlage Pingpong spielen konnte, ein angenehmes Redaktionsmilieu. Eine der lustvollsten Erzählerinnen war Katja Lange, die später in den Westen ging und unter dem Namen Katja Lange-Müller literarischen Ruhm erlangte.

Trotzdem haben wir eine schlechte Zeitung gemacht – verlogen, demagogisch, parteigelenkt, langweilig.

Alle Zeitungen litten unter Defiziten an Information und einem Übermaß an Propaganda. Unsere politischen Witze schafften es nie auf die Satire-Seite. Dabei waren sie keine Form des Widerstands, sondern eher der Anpassung, des Sich-Einrichtens in der Welt, in die wir geworfen worden waren. Witzeerzähler waren ja keine Weltverbesserer, sondern Alltagsphilosophen.

Anfrage bei Radio Jerewan: ‚Was haben die Deutschen geerbt von ihren großen Söhnen Marx und Engels?‘ Antwort: ‚Die im Osten das Kommunistische Manifest, die im Westen das Kapital.‘

Meist teilten sie die Idee von einer gerechteren Gesellschaft, die Unzufriedenen wie die Verbohrten. Unter unserer ideologischen Dunstglocke hielt sich die Hoffnung, auf dem Weg in eine bessere Welt zu sein. Dabei haben wir Freiräume gesucht für anständige Texte gerade im Bereich der Kultur, Wirtschaft, Auslandsreportage. Ich nahm jede Gelegenheit zu einer Auslandsreise wahr, etwa mit Solidaritätsmaschinen, schrieb über Bangladesch, Kuba und darüber, was der Krieg in Vietnam angerichtet hat. Die Berliner Zeitung firmierte offiziell nicht als Parteizeitung, war besser redigiert als Bezirkszeitungen, es gab gute Autoren. Die Auflage lag bei 400.000.

Wann entschieden sich Kollegen, unter Pseudonym zu schreiben?

Die Argumentationslinien der Abteilung Agitation des Zentralkomitees hatten wir regelmäßig in lesbare Kommentare umzusetzen. Keiner übernahm das gern, schon gar nicht unter seinem Namen. Dafür fand sich das Pseudonym „Von Argus Zetkow“, bis es bemerkt und vom Herausgeber untersagt wurde.

Chefredakteur: ‚Wie war der Empfang der sowjetischen Staatsdelegation?‘ – Redakteur: ‚Wie immer.‘ – ‚Was sagten die Redner?‘ – „Nichts. Wie immer.“ – ‚Gut, dann mach dich ans Diktat. Aber nicht mehr als drei Seiten.‘

Ein Witz aus dem Zeitungsmilieu, woher stammten die anderen?

Von draußen – aus Kneipen, von Partys, Recherchen und Lesern. Aus dem Leben eben. Am Anfang sind das grobe Klötze, spitze Zungen schleifen sie ab, bis ein feiner Kiesel übrig bleibt, der Witz. Ich hatte da einen gewissen Jagdtrieb entwickelt, konnte jetzt die meisten aus dem Gedächtnis aufschreiben. Witze blieben immer anonym, entstanden aber in ihrem Umfeld. Den Witz über die Großmächte habe ich im Außenministerium gehört:

Kennst du vier Großmächte mit U? – USA, UdSSR, United Kingdom und Unsere souveräne sozialistische Deutsche Demokratische Republik.

Als 1968 sowjetische Panzer den Prager Frühling beendeten, kamen Jugendliche ins Gefängnis, weil sie den Namen Dubček an Wände schrieben. Drohte Haft nicht auch für politische Witze?

Widerstand wurde anders geahndet als Witze – man hätte ja das halbe Volk verhaften müssen. Der Autor Bodo Müller durchforstete für sein Buch „Lachen gegen die Ohnmacht“ nach eigenen Angaben 40.000 Seiten Stasi-Akten, dokumentiert aber nur ein halbes Dutzend Strafverfolgungen aus den 1950er- und 60er-Jahren. Aufpassen musste man trotzdem, an wen man gerät. Aktenkundige „politische Unreife“ konnte durchaus die Karrieren beenden. Mein Sohn und sein Freund flogen 1978 von der Schule wegen eines Witzes, der auf die Ausreisewelle nach dem Biermann-Rausschmiss reagierte: „Der Letzte macht das Licht aus“. Die 16-Jährigen mussten zurück auf ihre alte Schule, konnten kein Abitur machen, bekamen mit Mühe noch eine Lehrstelle. Es stimmt natürlich, Witze brauchten ein Vertrauensverhältnis, eben Komplizenschaft.

Lady-Boss: Wie Christa Bertag die ganze DDR mit Kosmetik versorgte

vor 2 Std.

Moritzboys aus West-Berlin: Die „heftige Malerei“ der 80er-Jahre

19.11.2023

Interview: Birgit Walter

Zwei Staatenlenker fahren um die Wette Auto, Kennedy gewinnt. Die DDR-Agentur berichtet: ‚Bei einem international besetzten Autorennen belegte Genosse Chruschtschow einen hervorragenden zweiten Platz, Kennedy wurde nur Vorletzter.‘

Reagan, Gorbatschow und Honecker werden in der Sahara im Jeep von bewaffneten Beduinen verfolgt. Reagan wirft ihnen eine Nachricht zu: ‚Eine Million Dollar, wenn ihr uns in Ruhe lasst.‘ Ohne Erfolg. Gorbatschow bietet ‚für jeden einen wüstentauglichen Lada‘. Die Reiter bleiben dran. Erst nach Honeckers Nachricht drehen sie ab. Wie das? Sie lasen seine Wegbeschreibung: ‚Bei dem Tempo erreicht ihr hinter der Düne das Territorium der souveränen sozialistischen DDR.‘

An der Erdgastrasse Druschba finden Bauarbeiter einen Goldklumpen. ‚Teilen wir brü­derlich‘, schlägt der Russe vor. – ‚Nein, nein, halbe-halbe‘, verlangt der Deutsche.

Drei verblichene Weltbeweger sind von der DDR beeindruckt. Cäsar: ‚Hätte ich diese Stasi gehabt, wäre ich nie ermordet worden.‘ Dschingis Khan: ‚Bei dieser Mauer hätten meine Reiter keine Chance gehabt.‘ Napoleon seufzt: ‚Bei dieser Presse wüsste bis heute keiner, dass ich die Schlacht bei Waterloo verloren habe.‘

Anfrage bei Radio Jerewan: ‚Sind die Russen unsere Freunde?‘ Antwort: ‚Sie sind unsere Brüder. Freunde kann man sich aussuchen.‘

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de

QOSHE - Nie wieder so gelacht: Warum der Ostwitz einzigartig war – hier mit Beweisen - Birgit Walter
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Nie wieder so gelacht: Warum der Ostwitz einzigartig war – hier mit Beweisen

7 0
26.11.2023

Peter Jacobs ist 85 Jahre alt, unterscheidet sich aber in Gang, Statur und Lebendigkeit nicht von dem Kollegen, den ich in den 1970er-Jahren als besonders erfrischenden und humorvollen Redakteur der Berliner Zeitung kennengelernt habe. Dazu kommt ein Gedächtnis, aus dem er heute, ohne viel nachzudenken, die Namen längst verschollener Mitmenschen zu zahllosen Anekdoten fischt. Wir treffen uns in seiner Wohnung in der Bötzowstraße, die er seit 1981 mit seiner aus Kuba stammenden Frau bewohnt, der Bühnen- und Kostümbildnerin Nancy Torres. Beide machen einen fröhlichen Eindruck und haben nie aufgehört zu arbeiten. Ihre Wohnung steht bis unter die Decke voll mit Kunst und Büchern, ihr Atelier-Haus in Schildow auch. Ein Gespräch mit dem Autor über die Zeitung und sein jüngstes Buch „Der Ostwitz“.

Es gibt viele Bücher mit Witzen, auch über ein abgeschlossenes Sammelgebiet wie den Ostwitz. Dabei altern Witze generell schnell, weil sie auf den Moment reagieren, rasch abgestanden sind.

Witze verlangen einen Kontext. Das war mein Anliegen – damalige Zusammenhänge zu beleuchten, DDR-Leben anhand seiner Witzkultur zu spiegeln. Wie wir versuchten, uns mit Nischenhumor den Kopf freizuhalten, auch über uns selbst lachen zu können. Menschen haben sich Luft gemacht, wenn sie sich über die Verhältnisse aufregten, über die Versorgungslage, die Mauer, die Bevormundung, die peinlichen Staatslenker, die Russen und natürlich die Staatssicherheit, den VEB Horch und Guck. Natürlich ist es auch ein Erinnerungsbuch, der Ostwitz war ja ein Volksvergnügen, erzählt nicht nur auf Familienfeiern, in Kantinen und Kneipen, sondern auch in Betrieben. So viel gelacht wurde nie wieder.

Anfrage bei Radio Jerewan: ‚Sammeln die Genossen der Stasi auch Witze über sich selbst?‘ Antwort: ‚Im Prinzip ja, aber sie sammeln auch Leute, die sie erzählen.‘

24.11.2023

23.11.2023

23.11.2023

Ich selbst kam in den 1970ern erst als Volontärin, Jahre später als Redakteurin zur Berliner Zeitung, erlebte die Atmosphäre in der Redaktion immer als sehr befreiend:........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play