Ein Interview mit Sandra Hüller zu führen, ist, als habe man einen Termin mit einer Königin. Draußen, auf den Fluren eines Fünfsternehotels in Berlin-Tiergarten, wirbeln Frauen einer Filmagentur herum, telefonieren, organisieren, bieten Obst und Kaffee an. Drinnen, in einer Lounge, wartet eine weitere Agentin. Und die Königin wartet auch.

Ihre Haut ist blass, das Haar hochgesteckt, das Kleid ein Designerstück, hell, mit großem Kragen, die Begrüßung freundlich zurückhaltend. Ein Händedruck und die Frage, ob man Wasser wolle. Sie stellt ein Glas auf den Tisch, setzt sich, wartet auf die erste Frage. Kein Small Talk, keine überflüssige Geste, nur ihr konzentrierter, abwartender Blick. Hüllers Agentin sitzt einen Meter vom Tisch entfernt, immer bereit einzuschreiten. Die Uhr tickt. 20 Minuten, dann ist der Nächste dran.

Es ist ein Mittwochvormittag im Februar, drei Wochen bevor Hüllers neuer Film „The Zone of Interest“ in die deutschen Kinos kommt, in dem sie Hedwig Höß, die Frau des Lagerkommandanten von Auschwitz, spielt. Interviews wie dieses sind üblich bei so großen, internationalen Produktionen. Wie am Fließband werden Journalisten den Schauspielern zugeführt. Je berühmter der Star, desto größer die Nachfrage, desto kürzer die Zeit.

Sandra Hüller, 45, in Suhl geboren, Mutter einer zwölfjährigen Tochter, ist sehr berühmt gerade, was man an der Zahl der Interviews an diesem Tag ablesen kann: vormittags fünf, nachmittags drei. Vor allem aber an den Nominierungen und Preisen, die sie in den vergangenen Monaten erhalten hat. In Cannes gewannen gleich zwei Filme, in denen sie mitspielt, die wichtigsten Preise. In Los Angeles zeichnete sie der Verband der Filmkritiker für die beste Hauptrolle aus. Sie bekam nicht nur den Europäischen Filmpreis, sondern auch den César, Frankreichs höchste Ehrung in der Filmbranche, war in der Kategorie „Beste weibliche Hauptrolle“ für einen Golden Globe nominiert und für den britischen Filmpreis Bafta.

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„The Zone of Interest“ mit Sandra Hüller zeigt die Biederkeit der Täter

27.02.2024

Sind Sie wirklich keine deutsche Schauspielerin mehr, Sandra Hüller?

31.10.2023

Das Beste aber kommt noch, vielleicht, am heutigen Sonntag, wenn in Los Angeles die Academy Awards verliehen werden. „The Zone of Interest“ wurde für fünf Oscars nominiert, darunter in der Kategorie „Bester Film“. Auch „Anatomie eines Falls“ hat fünf Nominierungen bekommen; Hüller ist in dem Gerichtsdrama, in dem eine Schriftstellerin in den Verdacht gerät, ihren Ehemann umgebracht zu haben, als beste Hauptdarstellerin nominiert. Die erste Deutsche seit neunzig Jahren, die es so weit gebracht hat. Und das in einem Alter, in dem andere Schauspielerinnen Coach oder Yogalehrerin werden, weil sie keine Rollen mehr bekommen.

Wie hat sie das geschafft? Wie wird eine Thüringerin über Nacht zum Weltstar? Und will sie das überhaupt sein, ein Star, die Königin des deutschen Films?

Das alles würde man sie am liebsten sofort fragen, hier im Hotel im Berliner Botschaftsviertel. Aber mit den Fragen ist das so eine Sache. Die Agentur hat Vorgaben gemacht: „The Zone of Interest“ soll Thema und Schwerpunkt dieses Gesprächs sein. Außerdem warnen Kollegen, es sei nicht so leicht, Interviews mit Hüller zu führen. Auf Fragen stelle sie gerne Gegenfragen. Und wenn sie keine Lust habe, über ein bestimmtes Thema zu reden, zeige sie das ziemlich deutlich.

Erste Frage: Wie haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet, Frau Hüller?

„Eher praktisch“, sagt sie. Es sei nicht so leicht gewesen, diese Schneckenfrisur zu finden, die Hedwig Höß trage. „Da war ein bisschen Vorbereitung nötig.“

Haben Sie nicht versucht, sich vorzustellen, wie Hedwig Höß war, bevor sie die Ehefrau des Lagerkommandanten wurde?

„Nein.“

Warum nicht?

Weil sie das nicht interessant gefunden habe, antwortet Hüller. Der Film zeige einen Ausschnitt des Lebens von Hedwig Höß dort in Auschwitz. Sie, Hüller, habe keine Biografiearbeit gemacht, das nicht notwendig gefunden, weil es um etwas anderes gegangen sei. „Wir wollten erforschen, wie dieses Phänomen der Ignoranz funktioniert, und was es mit uns zu tun hat.“

Dem New Yorker haben Sie gesagt, Sie hätten sich vor den Dreharbeiten mit Ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigt.

„Ich habe mal rumgefragt, mehr nicht.“

Wie war das? Sind Sie auf Dinge gestoßen, die Sie nicht wussten?

„Nein, die Menschen, die Geheimnisse verraten können, sind nicht mehr da.“

So geht es weiter, 20 Minuten lang. Antworten so knapp und präzise, dass sie hinterher, als man ihr das Interview zur Autorisierung schickt, kaum etwas daran ändern wird. Andere Schauspieler erzählen viel und streichen hinterher die Hälfte davon wieder raus. Hüller streicht genau zwei Sätze, alles andere hat sie beim Sprechen bereits so formuliert, dass sie nichts zurücknehmen muss.

Frage: Wo haben Sie während der Dreharbeiten in Auschwitz übernachtet?

„Wir waren alle in so einem Wohnungskomplex untergebracht.“

Und wie haben Sie geschlafen?

„Gut.“

Gut? Haben Sie die Szenen vom Dreh nicht mit in Ihre Träume genommen?

„Nein.“

Mehr ist aus ihr nicht herauszuholen. Nicht zu diesem Thema, nicht zu dieser Rolle, die sie erst gar nicht spielen wollte: eine Frau, die sich um die Kohlrabi in ihren Beeten kümmert, während wenige Meter weiter Menschen vergast werden. Erst nachdem Hüller erfuhr, dass der Regisseur Jonathan Glazer keine Leichenberge zeigen werde, sondern die Ignoranz der Höß-Familie dem Leid anderer gegenüber, als sie sich mit Kollegen beriet, sagte sie zu.

Eine der Kolleginnen, die sie vor den Dreharbeiten anrief, war Corinna Harfouch, eine weitere Diva des deutschen Films – wie Hüller in Suhl geboren. Die Frauen kennen, mögen, schätzen sich. Und Harfouch kennt sich aus mit Nazi-Rollen. Vor 20 Jahren hat sie in „Der Untergang“ Magda Goebbels gespielt, die Ehefrau des Propagandaministers Joseph Goebbels, die zum Kriegsende im Führerbunker alle ihre Kinder umgebracht hat. Anders als Hüller hat Harfouch sich mit der Figur, die sie spielen sollte, vorher auseinandergesetzt, alles über sie gelesen, was sie in die Hände bekommen konnte, sagt sie am Telefon. „Alleine, um zu wissen, wie ein Mensch seine fünf kleinen Kinder töten kann.“

Sie habe keine Scheu, sich mit diesen Menschen zu vergleichen, sich zu fragen: Was hat das mit mir zu tun, mit der Zeit, mit dem Nationalsozialismus, erklärt Harfouch. Auch: Wie konnte das geschehen? Es gebe bei ihr auch ein persönliches Interesse. Ihr Vater sei in der DDR sehr ideologisch gewesen, auch wenn er nicht in der SED gewesen sei. „Das hat keine Nähe zugelassen.“

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„The Zone of Interest“ sei einer der besten Filme über die Frage, wie in so kurzer Zeit so viele Menschen ermordet werden konnten, findet Harfouch. Er zeige, wie gefährlich es sei, die Augen zu verschließen, damals und heute.

Sandra Hüller formuliert es ähnlich, sagt, als Kind habe sie gedacht, Nazis seien „Monster oder eine spezielle Menschenart“. Heute wisse sie, jeder Mensch habe diese Anlagen. „Jeder kann vereinfachen, unterdrücken, wahrscheinlich auch töten.“ Aber jeder könne auch entscheiden, „Faschistin oder Faschist zu sein und den Tod anderer Menschen in Kauf zu nehmen“. Im übertragenen Sinne würden das viele von uns machen, „jeden Tag“.

Es ist Hüllers längste Antwort und ihre entschiedenste. Ja, die Nazis waren einmal Menschen wie du und ich, aber nein, man muss nicht so werden. Man kann sich entscheiden, jeden Tag.

Ist es wirklich so einfach?

„Ja“, sagt Hüller.

Hat sie nie mit Leuten zu tun, die die AfD wählen, weil sie enttäuscht sind von der Politik?

„Ich habe dafür kein Verständnis.“

Redet sie mit diesen Leuten?

„Wenn ich welche treffe, ja. Klar.“

Corinna Harfouch sagt, Sandra Hüller habe starke Grundsätze, achte unheimlich auf Distanz, wolle sich nicht mit Figuren verbinden, die ins Finstere gingen. Nein, Gefühlen verweigere sie sich nicht, aber sentimental sei sie nie. „Das geschieht ihr einfach nicht.“ Immer wieder sei sie überrascht, woher sie diese Entschiedenheit habe, diese Klarheit in sich.

Ist das vielleicht etwas, was typisch für Schauspielerinnen ist, die aus der DDR kommen?

„Nee“, sagt Harfouch und lacht. „Wir DDR-Frauen sind alle sehr unterschiedlich.“ Das Sandra-Hüller-Phänomen lasse sich nicht so einfach ergründen.

Viele haben das versucht. In fast jedem Interview wird sie nach ihrer Kindheit in der DDR gefragt; wie das Land, das es nicht mehr gibt, der Mauerfall, die Wendezeit, ihre Art zu spielen, zu leben, geprägt haben, warum sie in Leipzig lebt, im Osten, nicht in Berlin oder Bochum, wo sie am Theater spielt.

Fühlen Sie sich als Ostdeutsche, Frau Hüller?

„Ich wurde in der DDR geboren, und das wird immer so bleiben.“

Für ein Foto in der Süddeutschen Zeitung haben Sie einmal Ihre Arme um den Körper gelegt, eine Geste, die zeigt, wie wohl Sie sich dort fühlten.

„Ich hatte eine recht behütete Kindheit, ja.“

Können Sie mehr darüber sagen?

„Nein. Da müssen Sie konkreter fragen.“

Klassische Hüller-Antworten. Einsilbig, genervt, fast trotzig. Woher das kommt, hat sie in einem Interview für das Buch „Ostfrauen erobern die Republik“ erklärt. „Was ich merke, ist, dass dieses Thema immer noch ein heißes Thema ist, ein gefährliches Thema. Und dass ich immer noch das Gefühl habe, ich könnte mich da in die Nesseln setzen.“

Eine Frau aus dem Osten, die Angst hat, missverstanden, bewertet, vereinnahmt zu werden, so klingt es. Es fällt auf, dass Sandra Hüller ausländischen Journalisten gegenüber offener ist, wenn es um ihr Leben in der DDR geht. Dem New Yorker hat sie gesagt, sie habe damals die Kraft der Gemeinschaft gelernt, wie wichtig die Verantwortung füreinander sei. Ihr Leben in ihrer Familie habe sich beruhigend und berechenbar angefühlt. Dass man nicht ständig alles kaufen konnte, für Waren anstehen musste, hat sie nicht gestört. „So ist das Leben, man kann nicht immer alles haben.“

Hüller war elf, als die Mauer fiel, ein Kind, das wenig Freunde und wenig Hobbys hatte. Mit ihrer Familie lebte sie in Friedrichroda, einer thüringischen Kleinstadt. Ihre Mutter war Erzieherin in einem Schulhort, ihr Vater Erzieher in einem Lehrlingswohnheim, beide wurden arbeitslos, auch viele ihrer Verwandten. Beim Interview in Berlin sagt sie, sie habe damals erlebt, „wie sich von einem Tag auf den anderen die ganze Welt ändern kann“. Das sage sie „gar nicht emotionalisiert oder so“. Es sei faktisch so gewesen. „Das Misstrauen gegenüber Erzählungen, auch großen Systemerzählungen. Alles kann sich schnell ändern. Wenn es eine Prägung gibt, dann die.“

In der achten Klasse fragte ihre Englisch- und Deutschlehrerin sie, ob sie Lust habe, in der Theatergruppe mitzuspielen. Sie machte mit, weil sie in nichts anderem gut gewesen sei, sagte Hüller einmal. „Ich konnte ausdrücken, was ich wollte. Ich wollte nie mehr damit aufhören.“ Die Theatergruppe, so klingt es, war ihr Glück, eine Art Schutzraum in einer Zeit, in der alles auseinanderbrach, eine Welt, in der es klare Regeln gab, in der man Gefühle ausleben konnte, wo man im Ensemble spielte, in der Gemeinschaft.

Gemeinschaft ist Hüller wichtig, immer wieder betont sie das. Sie will kein Star sein, keine Königin, sagt lieber „wir“ als „ich“, weist bei Komplimenten, die sie bekommt, auf die Leistung der anderen hin, das Team.

Es gibt ein Foto von Sandra Hüller aus dem Jahr 1996, aufgenommen kurz nachdem sie die Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule Ernst Busch in Berlin bestanden hat. Sie ist darauf mit ihrem Abi-Jahrgang zu sehen, steht in der Mitte, raspelkurze Haare, schulterfreies Top und ein Strahlen im Gesicht, als habe sie gerade ihren ersten Filmpreis gewonnen.

Mit dem Theater begann ihre Laufbahn als Schauspielerin, feierte sie ihre ersten Erfolge in Basel, München, Bochum, Halle, Zürich, an der Berliner Volksbühne. Mit 24 wurde sie zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gewählt und mit 30 zur Schauspielerin des Jahres, eine Auszeichnung, die sie noch drei weitere Male bekam.

Kaum ins Filmgeschäft eingestiegen, ging es weiter mit den Preisen. Für „Requiem“, der Geschichte einer jungen Frau, die von ihrer religiösen Familie dazu gezwungen wird, sich einer Teufelsaustreibung zu unterziehen, erhielt sie den Silbernen Bären, den Bayerischen und den Deutschen Filmpreis. „Toni Erdmann“, in dem sie an der Seite von Peter Simonischek eine kühle Managerin spielt, wurde in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ für einen Oscar nominiert.

2016 war das, erstmalig fiel Hüller auch international auf: als Talent, als Frau, die all ihre Kraft, ihre Emotionen in ihre Rollen legt, keine Scheu hat, 15 Minuten lang splitternackt vor Kameras herumzulaufen oder vor einem Osterstrauß Whitney Houstons „Greatest Love Of All“ zu schmettern, und das so gut, dass man sich die Szene immer wieder ansehen möchte.

Sandra Hüller verstelle sich nicht für ihre Rollen, sie suche die Figuren, die sie spiele, in sich, sagt die Bühnen- und Kostümbildnerin Magdalena Musial, die mit ihr 2002 in Leipzig an der Produktion von „Die Nacht singt ihre Lieder“ zusammenarbeitete. Der Schauspieler Jens Harzer erinnert sich im New Yorker daran, wie Hüller, die Newcomerin, schon die erste Szene von „Requiem“ dominierte. „Sie wusste genau, was sie wollte und was sie nicht wollte, folgte ihrem eigenen Weg, ohne sich von mir abhängig zu machen.“

Rebecca Mead, die Hüller für den New Yorker über längere Zeit begleitete, nennt sie am Telefon „fiercely intelligent“, hochintelligent, „mit einem guten Sinn für Humor“. Der Filmkritiker Knut Elstermann sagt, sie sei „eine Radikale“, die sich trotz der vielen Preise überhaupt nicht verändert habe. Es gebe bei ihr keine Routine, keine Gefallsucht. „Sandra ist unkorrumpierbar, immer sie selbst.“ Darin ähnele sie anderen ostdeutschen Schauspielerinnen. Als Beispiel nennt er Dagmar Manzel, die es als persönliche Beleidigung empfinde, über den Roten Teppich zu laufen. Aber auch Corinna Harfouch und Karoline Schuch, die – wie Hüller – in Interviews sehr direkt seien. Keine leeren Rituale, keine falschen Gesten.

Eine Erfahrung, die nun, vor der Oscar-Verleihung, auch amerikanische Journalisten machen, wenn sie Hüller interviewen. Als der Filmkritiker Pete Hammond im „Major Oscar Talk“ ihre Hündin lobt, die in „The Zone of Interest“ mitspielt, sagt sie trocken: „Werde ich ihr ausrichten.“ Als Hammond fragt, ob es einen Grund gebe, dass sie oft mit Frauen zusammenarbeite, antwortet sie: „Ich suche Regisseure nicht nach ihrem Geschlecht aus, das interessiert mich nicht.“

Bei der überdrehten Moderatorin der Fernsehshow ABC-News bedankt sie sich am Morgen, nachdem ihre Nominierung bekannt wurde, „für die Einladung zum Interview“. Dem Hollywood-Reporter erklärt sie, sie werde vor der Preisverleihung etwas essen, während der Feier gebe es ja nichts. In Jimmy Kimmels Late-Night-Show sagt sie, sie habe die Nachricht über ihre Nominierung beinahe verpasst, weil sie gerade den Müll weggebracht habe. Auf seine Frage, ob sie schon mal bei den Oscars gewesen sei, sagt sie: Ja, mit „Toni Erdmann“, aber viel mitbekommen habe sie nicht. Weil sie meist draußen geraucht habe. Dass Kimmel damals die Preisverleihung moderierte, hat sie vergessen. Tja.

Nur nicht abheben, so klingt es, immer bei sich bleiben, nicht den Bezug zur Realität verlieren. Vielleicht etwas Ostdeutsches, vielleicht aber auch die Furcht einer Künstlerin, zu viel Ruhm könnte sie verändern, ihr die Authentizität nehmen, die ihr Schauspiel so einzigartig macht. Aus Berlin sei sie weggegangen, weil sie immer das Gefühl gehabt habe, irgendjemand sein, ein bestimmtes Gesicht aufsetzen zu müssen, hat sie dem New Yorker erzählt. Beim Interview in Berlin sagt sie: „Ich finde es eben nicht so interessant, so zu tun, als wäre ich irgendwer.“

Schon allein wegen solcher Sätze wünscht man sich, dass Sandra Hüller am Sonntag in Los Angeles auf die Bühne gerufen wird, dass sie ihre Konkurrentinnen Annette Bening, Lily Gladstone, Carey Mulligan und Emma Stone aus dem Rennen wirft und eine Dankesrede hält, in der ihre Eltern Kornelia und Reiner Hüller in Thüringen vorkommen. Und die Englischlehrerin, die sie in die Theatergruppe holte.

Aber noch ist es nicht so weit, noch gibt es Momente in ihrem Leben, die nichts mit dem Oscar-Rummel zu tun haben, an denen sie sich dem widmet, was sie am liebsten und längsten macht: Theater spielen.

Ein Donnerstag in Bochum, zehn Tage vor der Oscar-Verleihung. Im Schauspielhaus der Stadt wird Luis Buñuels „Würgeengel“ gespielt. Das Theater füllt sich schnell, was in dem Haus mit mehr als 800 Plätzen nicht die Regel ist. Und auch nicht bei diesem Stück. Als die New-Yorker-Reporterin Rebecca Mead im September den „Würgeengel“ sah, blieben so viele Plätze frei, dass sie sich wunderte, wie ein Theater sich das leisten könne, erzählt sie. „Am Broadway würde so ein schlecht besuchtes Stück schnell wieder abgesetzt werden.“

Heute ist der Saal ausverkauft. Alle wollen Hüller sehen, den deutschen Star in Hollywood. Auf dem Verkaufstisch liegen die Kataloge der Stücke, in denen sie mitgespielt hat. Besucher fotografieren ihr Bild im Foyer ab. Bevor die Vorstellung beginnt, gibt es eine Einführung zum Stück, ein Dramaturg rät, „auf die Stelle zu achten, bei der Sandra Hüller ihren Monolog sucht“. Als sich der Beginn wegen technischer Probleme verschiebt, ruft eine Besucherin: „Das ist doch nur, weil die Hüller noch nicht da ist.“

Aber sie ist da, liegt bei offenem Vorhang auf dem hinteren Teil der Bühne, wartet auf ihren Auftritt. Roter Rock, rote Bluse, goldene High Heels, ein Bein ragt in die Luft. Die Show beginnt: Eine Party ist zu Ende, alle Gäste sind weg, nur fünf finden keinen Absprung, keinen Weg nach draußen, obwohl die Türen offen sind. Eine Analogie auf die Krisen in der Welt und die Gesellschaften, die keine Antworten darauf finden. Hüller ist sowas wie die Anführerin der Runde, flüstert, schreit, würgt, presst, singt – so wahnhaft, so entfesselt, als wäre das Theater ein Irrenhaus, als verliere sie hier, auf der Bühne, all die Kontrolle, um die sie sonst so bemüht ist.

Zum Schluss gibt es Standing Ovations. Die Schauspieler fassen sich an den Händen, verbeugen sich. Sandra Hüller, der Star des Abends, mittendrin, immer im Ensemble, in der Gemeinschaft. Nie allein. Der Applaus hört nicht auf. Ein drittes, ein viertes, ein fünftes Mal müssen die Darsteller auf die Bühne kommen. Und dann passiert etwas mit Hüller, kann man zusehen, wie sich ihre Freude über den Erfolg in Skepsis verwandelt, sie sich zu fragen scheint, ob es noch um das Stück, die Leistung des Ensembles geht. Oder nur um sie. Die Königin. Beim sechsten Mal schüttelt sie den Kopf, ganz leicht, geht von der Bühne und kommt nicht mehr zurück.

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Sandra Hüller: „Ich wurde in der DDR geboren, und das wird immer so bleiben“

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10.03.2024

Ein Interview mit Sandra Hüller zu führen, ist, als habe man einen Termin mit einer Königin. Draußen, auf den Fluren eines Fünfsternehotels in Berlin-Tiergarten, wirbeln Frauen einer Filmagentur herum, telefonieren, organisieren, bieten Obst und Kaffee an. Drinnen, in einer Lounge, wartet eine weitere Agentin. Und die Königin wartet auch.

Ihre Haut ist blass, das Haar hochgesteckt, das Kleid ein Designerstück, hell, mit großem Kragen, die Begrüßung freundlich zurückhaltend. Ein Händedruck und die Frage, ob man Wasser wolle. Sie stellt ein Glas auf den Tisch, setzt sich, wartet auf die erste Frage. Kein Small Talk, keine überflüssige Geste, nur ihr konzentrierter, abwartender Blick. Hüllers Agentin sitzt einen Meter vom Tisch entfernt, immer bereit einzuschreiten. Die Uhr tickt. 20 Minuten, dann ist der Nächste dran.

Es ist ein Mittwochvormittag im Februar, drei Wochen bevor Hüllers neuer Film „The Zone of Interest“ in die deutschen Kinos kommt, in dem sie Hedwig Höß, die Frau des Lagerkommandanten von Auschwitz, spielt. Interviews wie dieses sind üblich bei so großen, internationalen Produktionen. Wie am Fließband werden Journalisten den Schauspielern zugeführt. Je berühmter der Star, desto größer die Nachfrage, desto kürzer die Zeit.

Sandra Hüller, 45, in Suhl geboren, Mutter einer zwölfjährigen Tochter, ist sehr berühmt gerade, was man an der Zahl der Interviews an diesem Tag ablesen kann: vormittags fünf, nachmittags drei. Vor allem aber an den Nominierungen und Preisen, die sie in den vergangenen Monaten erhalten hat. In Cannes gewannen gleich zwei Filme, in denen sie mitspielt, die wichtigsten Preise. In Los Angeles zeichnete sie der Verband der Filmkritiker für die beste Hauptrolle aus. Sie bekam nicht nur den Europäischen Filmpreis, sondern auch den César, Frankreichs höchste Ehrung in der Filmbranche, war in der Kategorie „Beste weibliche Hauptrolle“ für einen Golden Globe nominiert und für den britischen Filmpreis Bafta.

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„The Zone of Interest“ mit Sandra Hüller zeigt die Biederkeit der Täter

27.02.2024

Sind Sie wirklich keine deutsche Schauspielerin mehr, Sandra Hüller?

31.10.2023

Das Beste aber kommt noch, vielleicht, am heutigen Sonntag, wenn in Los Angeles die Academy Awards verliehen werden. „The Zone of Interest“ wurde für fünf Oscars nominiert, darunter in der Kategorie „Bester Film“. Auch „Anatomie eines Falls“ hat fünf Nominierungen bekommen; Hüller ist in dem Gerichtsdrama, in dem eine Schriftstellerin in den Verdacht gerät, ihren Ehemann umgebracht zu haben, als beste Hauptdarstellerin nominiert. Die erste Deutsche seit neunzig Jahren, die es so weit gebracht hat. Und das in einem Alter, in dem andere Schauspielerinnen Coach oder Yogalehrerin werden, weil sie keine Rollen mehr bekommen.

Wie hat sie das geschafft? Wie wird eine Thüringerin über Nacht zum Weltstar? Und will sie das überhaupt sein, ein Star, die Königin des deutschen Films?

Das alles würde man sie am liebsten sofort fragen, hier im Hotel im Berliner Botschaftsviertel. Aber mit den Fragen ist das so eine Sache. Die Agentur hat Vorgaben gemacht: „The Zone of Interest“ soll Thema und Schwerpunkt dieses Gesprächs sein. Außerdem warnen Kollegen, es sei nicht so leicht, Interviews mit Hüller zu führen. Auf Fragen stelle sie gerne Gegenfragen. Und wenn sie keine Lust habe, über ein bestimmtes Thema zu reden, zeige sie das ziemlich deutlich.

Erste Frage: Wie haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet, Frau Hüller?

„Eher praktisch“, sagt sie. Es sei nicht so leicht gewesen, diese Schneckenfrisur zu finden, die Hedwig Höß trage. „Da war ein bisschen Vorbereitung nötig.“

Haben Sie nicht versucht, sich vorzustellen, wie Hedwig Höß war, bevor sie die Ehefrau des Lagerkommandanten wurde?

„Nein.“

Warum nicht?

Weil sie das nicht interessant gefunden habe, antwortet Hüller. Der Film zeige einen Ausschnitt des Lebens von Hedwig Höß dort in Auschwitz. Sie, Hüller, habe keine Biografiearbeit gemacht, das nicht notwendig gefunden, weil es um etwas anderes gegangen sei. „Wir wollten erforschen, wie dieses Phänomen der Ignoranz funktioniert, und was es mit uns zu tun hat.“

Dem New Yorker haben Sie gesagt, Sie hätten sich vor den Dreharbeiten mit Ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigt.

„Ich habe mal rumgefragt, mehr nicht.“

Wie war das? Sind Sie auf Dinge gestoßen, die Sie nicht wussten?

„Nein, die Menschen, die Geheimnisse verraten können, sind nicht mehr da.“

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© Berliner Zeitung


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