Ich sitze in der Bahn, neben dem Gepäckfach, unter dem zwei Union-Fans liegen. Sie trinken Bier und grölen ihren Frust über das ausgefallene Bayern-Spiel in den Gang. Die Frau neben mir sagt, dies sei die schlimmste Fahrt ihres Lebens. „DB wie Drecksbahn“, ruft eine andere. Mir geht es gut. Der Zug rollt. Das ist die Hauptsache.

Ich war in den vergangenen Wochen oft mit der Bahn unterwegs. Die Reisen haben mich verändert. Eine Stunde Verspätung? Kein Problem! Ein hustender Mann gegenüber. Gibt Schlimmeres! Volltrunkene Fußball-Fans? Große Unterhaltung.

Es ist die Resignation der Verzweifelten. Man fügt sich in einen Zustand, weil man denkt, dass man ihn nicht ändern kann. Ein Gefühl, das ich aus DDR-Zeiten kenne.

Im November sei nur jeder zweite Zug pünktlich gewesen, sagt die Deutsche Bahn zwei Tage, bevor die Lokführergewerkschaft den nächsten Warnstreik ankündigt. Meine persönliche Statistik ist schlechter. Ein einziges Mal war mein Zug pünktlich. Meine Lesung in Magdeburg musste ausfallen, wegen des letzten Warnstreiks. In Chemnitz weckte mich mein Handy mit der Nachricht: „Wintereinbruch: Bahnverkehr in Süddeutschland aktuell stark beeinträchtigt.“

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Chemnitz ist nicht Süddeutschland. Aber vor dem Hotelfenster fiel Schnee. Der Winter konnte jede Minute auch hier, im Süden Ostdeutschlands, einbrechen. Ich warf die Sachen in den Koffer und rannte zum Bahnhof.

Zwei Tage zuvor war ich aus Amsterdam nach Berlin gefahren. Eigentlich sollte an diesem Tag gestreikt werden, aber aus irgendeinem Grund muss es sich die deutsche Lokführergewerkschaft nochmal anders überlegt haben. Der Zug fuhr pünktlich ab, das Wlan ging, ich sah eine Serie, las ein Buch, sah aus dem Fenster, war stolz, nicht das Auto oder Flugzeug genommen zu haben. Und dann, kurz vor Minden: Vollbremsung!

In Hannover war eine Oberleitung kaputt und der Strom ausgefallen. „Die Züge stehen kreuz und quer“, informierte uns der Zugbegleiter. Seine Durchsagen klangen immer resignierter: Keine neuen Erkenntnisse zur Weiterfahrt. Immer noch alles dicht in Hannover. Wir haben noch mal 60 Minuten dazubekommen.

Wir mussten aussteigen, auf einen anderen Zug warten. Und auch aus dem wieder raus. „Liebe Fahrgäste! Wir werden jetzt alle gemeinsam aussteigen und dann gemeinsam weiter nach Berlin fahren“, sagte die Zugbegleiterin im Kindergärtnerinnenton. Wahrscheinlich lernen sie das bei ihren DB-Schulungen.

Sie tun mir leid, die Zugbegleiter und Lokführer. Sie stecken genauso fest wie ihre Fahrgäste und müssen es noch rechtfertigen. Von mir aus sollen sie alle mehr Gehalt bekommen, ohne Streik. Und die Bahn soll wieder verstaatlicht werden. In Neuseeland haben sie das auch gemacht.

Ein Kanadier, der im dritten ICE, in den ich umsteigen musste, schräg hinter mir saß, konnte es nicht fassen, dass das kein Einzelfall in Deutschland ist. Das seien ja Zustände wie zu Sowjetzeiten, sagte er. Zu Sowjetzeiten sei es besser gewesen, sagte ein Mann, der eigentlich zu jung war, um das zu wissen. Niemand widersprach. Alle redeten durcheinander, alle berichteten von ihren letzten Horrorreisen.

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Die Stimmung schwankte zwischen Panik und Übermut. Ein Junge brüllte in sein Handy: „Jeder Zug, der hier fährt, fällt aus!“ Mein Sitznachbar brachte mir Wasser aus der Notversorgung mit, der Kanadier flirtete mit einer Niederländerin, die in Leipzig studierte und irgendwann gestand, dass sie aus Belarus kam und nicht aus Holland. Der Kanadier sagte, dass er sich als Jude noch nie so jüdisch im Leben gefühlt habe wie nach dem 7. Oktober. Sein Sitznachbar erzählte, dass er Historiker sei und aus West-Berlin komme. Ein anderer fragte, ob ihm jemand ein Auto empfehlen könne. Nie wieder werde er mit der Bahn fahren, sagte er.

Nach sechs Stunden sollte es weitergehen, aber nun war der Lokführer weg. „Meine Damen und Herren“, verkündete der Zugbegleiter, „der Lokführer ist verschwunden. Ich suche ihn schon die ganze Zeit.“ Der Kanadier bekam einen Lachanfall. Die Belarussin beschloss, heute nicht mehr weiter nach Leipzig zu fahren. Als wir in Berlin waren, endlich, sah ich, wie sie die Rolltreppe hochfuhren. Zusammen.

QOSHE - Reisen mit der Deutschen Bahn: „Meine Damen und Herren, unser Lokführer ist verschwunden“ - Anja Reich
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Reisen mit der Deutschen Bahn: „Meine Damen und Herren, unser Lokführer ist verschwunden“

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07.12.2023

Ich sitze in der Bahn, neben dem Gepäckfach, unter dem zwei Union-Fans liegen. Sie trinken Bier und grölen ihren Frust über das ausgefallene Bayern-Spiel in den Gang. Die Frau neben mir sagt, dies sei die schlimmste Fahrt ihres Lebens. „DB wie Drecksbahn“, ruft eine andere. Mir geht es gut. Der Zug rollt. Das ist die Hauptsache.

Ich war in den vergangenen Wochen oft mit der Bahn unterwegs. Die Reisen haben mich verändert. Eine Stunde Verspätung? Kein Problem! Ein hustender Mann gegenüber. Gibt Schlimmeres! Volltrunkene Fußball-Fans? Große Unterhaltung.

Es ist die Resignation der Verzweifelten. Man fügt sich in einen Zustand, weil man denkt, dass man ihn nicht ändern kann. Ein Gefühl, das ich aus DDR-Zeiten kenne.

Im November sei nur jeder zweite Zug pünktlich gewesen, sagt die Deutsche Bahn zwei Tage, bevor die Lokführergewerkschaft den nächsten Warnstreik ankündigt. Meine persönliche Statistik ist schlechter. Ein einziges Mal war mein Zug pünktlich. Meine Lesung in Magdeburg musste ausfallen, wegen des letzten Warnstreiks. In Chemnitz weckte mich mein Handy mit der Nachricht:........

© Berliner Zeitung


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