Ein Café in Berlin-Schöneberg, mittags um 12 Uhr. Deborah Feldman bestellt frisch gepressten Orangensaft und stilles Wasser mit Eiswürfeln und Zitrone. Sie hat wenig geschlafen in den letzten Nächten. Ihr neues Buch, der Auftritt bei Markus Lanz, und geheiratet hat sie auch. Feldman, Enkelin von Holocaust-Überlebenden, Aussteigerin aus einer ultraorthodoxen Gemeinde in New York, Bestsellerautorin, Mutter eines 18-jährigen Sohnes, lebt seit zehn Jahren in Berlin und gerät hier gerade mit ihren Thesen über jüdische Identität und ihrer Solidarität für Palästinenser in die Frontlinie des Streits, was die deutsche Staatsräson gegenüber Israel bedeutet.

Feldman kritisierte die verschobene Preisverleihung für die palästinensische Autorin Adania Shibli, unterschrieb einen Offenen Brief von 1200 Intellektuellen dagegen, sagt, die einzige Lehre aus dem Holocaust müsse die bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle sein. Dafür wird sie angegriffen. Ein Autor der Jüdischen Allgemeinen schrieb in den sozialen Medien, er habe „strafbewehrte Gedanken“ über Feldman als Geisel der Hamas. Der Chefredakteur und der Autor haben sich inzwischen bei Feldman entschuldigt, aber der Schock darüber ist ihr im Gespräch noch anzumerken. Und auch ihre Entschiedenheit, sich nicht zum Schweigen bringen zu lassen.

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Frau Feldman, wie geht es Ihnen in diesen Tagen?

Ich bin gerade dabei, zu verarbeiten, dass meine schlimmsten Ängste in Erfüllung gehen.

Ängste wovor?

Was auf uns zukommt, die politischen Veränderungen nicht nur in Israel, sondern in der ganzen Welt, Angst vor einem Zivilisationsbruch. Niemand kann sich das Schlimmste vorstellen, ich aber kann es aufgrund meiner Lebensgeschichte. Mir schwebten solche Szenarien in zehn oder zwanzig Jahren vor, die Lage spitzt sich aber jetzt zu. Damit habe ich nicht gerechnet.

Mit so einem Massaker wie dem der Hamas haben Sie nicht gerechnet?

Meine Großmutter hat mir immer gesagt, dass es wieder passieren wird. Sie sagte, der Holocaust wird wiederkommen, wiederkommen, wiederkommen.

Wie hat Ihre Großmutter das begründet?

Sie hat gesagt, die Pogrome geschehen zyklusartig und regelmäßig und es gebe keinen Grund, warum es jetzt anders sein sollte. Sie sagte aber auch, es passiert niemals gleich, immer auf neue Art, und immer genau aus der Ecke, auf die man gerade nicht schaut. Margot Friedländer sagt, wir dürfen die Begriffe der Vergangenheit nicht auf die Gegenwart anwenden. Das glaube ich auch. Wenn man sah, wie sich die Lage in Israel verändert hat, wie sich die Menschen radikalisierten, die Siedler sich immer mehr Freiheiten nahmen, jenseits aller Gesetze zu agieren, hat man etwas kommen sehen. Alle haben etwas kommen sehen. Netanjahu wurde gewarnt, auch die Sicherheitsdienste.

Haben Sie Angst, hier in Berlin?

An dem Freitag, als die Hamas zu Gewalt gegen Juden in aller Welt aufgerufen hat, habe ich mit meinem Sohn geredet, ihm gesagt, er solle aufpassen. Aber wie diese Angst hier instrumentalisiert wird, regt mich auf. Letztens sammelte eine Sonntagszeitung jüdische Stimmen zu ihrem derzeitigen Leben in Deutschland. Und wen fragten sie zuerst: eine Christin! In dem Artikel wird sie als Jüdin dargestellt, sie schickt ihren getauften Sohn aufs Jüdische Gymnasium, und an dem Tag, als die Hamas zu Gewalt gegen Juden in der ganzen Welt aufrief, war er einer von nur zwei Schülern in der Klasse. Die anderen sind zu Hause geblieben. Sie sprach von „teilweisen Überreaktionen“. Das muss man sich mal vorstellen: Eine große deutsche Zeitung bringt ein Gespräch über die Lebensrealitäten von Juden in diesem Land, und darin sagt eine Christin über die Juden: Ihr reagiert über. Das ist eine Farce.

Mit diesen Themen beschäftigt sich Ihr Buch „Judenfetisch“, darin beschreiben Sie die Besessenheit der Deutschen mit dem Judentum, kritisieren auch, dass konvertierte Juden den Diskurs übernehmen. Ist das Thema jetzt, nach dem 7. Oktober, noch aktueller geworden?

Ja, ich sehe, dass viele gar keine Ahnung haben: Was sind Juden? Was für Leben führen sie? Wer darf für sie sprechen? Die Art und Weise, wie medial berichtet wurde, war bedrückend. Die Einzigen, die hier als richtige Juden gelten, sind die, die sich für das erzkonservative und rechte Vorhaben der israelischen Regierung aussprechen. Und basta.

In „Judenfetisch“ schreiben Sie, Sie wollen eigentlich gar nicht mehr jüdisch sein, kommen aber aus der Rolle nicht heraus. Ist das jetzt auch stärker geworden, dieses Gefühl?

Absolut. Ich spüre eine große Bürde, eine Verantwortung. Es ist schwer für mich zu sehen, wie Menschen einfach ihren ganz normalen Alltag weiterleben. Ich suche deswegen wahrscheinlich auch Kontakt zu Menschen palästinensischer Herkunft. Denn sie sind die Einzigen, die verstehen, was mir durch den Kopf geht. Eine Freundin, die einen palästinensischen Vater hat, erzählte mir, dass sie seit dem 7. Oktober tiefe Scham und Selbsthass empfinde, eine schlimme Identitätskrise habe und Angst, man könnte denken, sie als Palästinenserin würde die Taten der Hamas unterstützen.

Sie sagten gerade, Sie spüren Verantwortung. Wofür?

Für alle, die leise geworden sind: in Israel, aber auch in Deutschland. Seit ich hier bin, wird mir immer wieder vermittelt, man dürfe nur auf eine bestimmte Art und Weise über Israel sprechen.

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Wie wird Ihnen das vermittelt?

Wann immer ich mich zu Israel geäußert und gesagt habe, dass die Orthodoxen dort zunehmend an die Macht kommen, werde ich angegriffen, gibt es Beschwerden an Medien, die mich zu Wort kommen lassen. Der Gegenwind ist heftig, mir wird sogar Gewalt angedroht. Ich bekomme Todesdrohungen, seit ich mein erstes Buch veröffentlicht habe.

Todesdrohungen?

Wer hat Jitzchak Rabin getötet? Ein religiöser Eiferer. Aus dieser Welt komme ich, dort gibt es Menschen, die es richtig finden würden, wenn ich für meine Ansichten sterbe. Ein rechter Journalist von der Jüdischen Allgemeinen sagt, ich sollte selbst mal Geisel sein. Das muss man sich mal vorstellen! Ich habe Angst.

In Ihrem Buch steht der Satz, Sie hätten mehr Angst vor religiösen Eiferern als vor islamistischen Fundamentalisten. Wirklich?

Ja. Das schreibe ich an der Stelle, wo es darum geht, wo ich in Jerusalem unterkomme, in West-Jerusalem bei den Juden oder in Ost-Jerusalem bei den Arabern. Für die religiösen Juden bin ich die Feindin Nummer eins, für die Islamisten aber nur eine Jüdin unter Millionen. Deshalb habe ich mich entschieden, in Ost-Jerusalem zu bleiben, denn dort war ich nicht die ultimative Zielscheibe, die ich für die Ultraorthodoxen bin. Das gilt aber nur für mich persönlich. Weil ich eine Abtrünnige bin. Viele hassen mich.

Kommt dieser Hass auch aus New York, aus Ihrer ehemaligen Gemeinde?

Das war einer der Gründe, warum ich nach Berlin gezogen bin. Deutschland ist nicht auf deren Radar, sondern verbrannte Erde der Vergangenheit. Ich konnte hier verschwinden. Das war gut. Aber dann wurde ich auch hier angegriffen.

Wie ist es, in Deutschland zu sein, wenn es kein Ort mehr ist, an dem Sie verschwinden können?

Alles ist jetzt besonders mit Bedeutung aufgeladen. Heute früh habe ich in einem Café eine Schwedin kennengelernt, die ein Tattoo auf ihrem Arm hatte: Chai, das hebräische Wort für Leben. Sie hat einen jüdischen Vater, hat sich nach dem 7. Oktober zusammen mit ihrer Schwester dieses Tattoo machen lassen. Wir redeten mehr als eine Stunde über Chai, das Leben. Es ist sehr leicht, sich darauf zu einigen, das Leben über den Tod zu erheben. Auch mit Palästinensern. Wenn sie nicht barbarische Terroristen sind. Dieses Wort „Chai“ gibt mir mehr Halt als ein Davidstern. Als ich rauskam, traf ich Hetty Berg

Die Leiterin des Jüdischen Museums in Berlin

Die mir erzählte, wie schwer es für sie war, mehr Wachschutz für ihr Museum zu bekommen. Ihre Mitarbeiter hatten Angst, zur Arbeit zu kommen. Ich erzählte ihr von dem koscheren Restaurant bei mir um die Ecke, in das kaum Gäste kommen, weil sie Angst haben, weil sie nicht beschützt werden. So ist mein Leben in Berlin. Aufgrund solcher Begegnungen bin ich hier. Aber das, was sich in Deutschland abspielt, diese falsche Performance, ist mir zuwider. Das will ich entblößen als die Lüge, die es ist.

Welche Lüge?

Die Lüge ist: Deutschland steht bedingungslos zu Israel, Deutschland stellt den Schutz jüdischen Lebens über alles. Aber als bekannt wurde, dass manche Geiseln die deutsche Staatsbürgerschaft haben und ich einen Bundestagsabgeordneten, der einer Regierungspartei angehört, fragte, wie die deutsche Regierung zu dem Thema stehe, antwortete er: „Das sind doch keine reinen Deutschen.“ Das würden die Israelis schon selbst regeln. Der Schutz jüdischen Lebens bedeutet hier, Polizisten vor leere Synagogen zu stellen. Doch wer schützt die Menschen, die in koschere Restaurants gehen wollen? Es interessiert nur, was diese Menschen uns für politische Symbolbilder liefern können.

Oder wie ein Politiker aus der Bundesregierung, der überall seine Unterstützung für Israel ankündigt, aber mir neulich im Privaten ganz unbekümmert sagte, Geiseln mit deutscher Staatsbürgerschaft wären keine "reine Deutsche" und deshalb auch nicht die Verantwortung der Regierung https://t.co/0yUHPDuzou

Die Polizei steht auch auf der Sonnenallee in Neukölln.

Ich weiß, ich habe da mal gewohnt.

Warum sind Sie weggezogen?

Das hatte pragmatische Gründe. Der Schulweg für meinen Sohn ist durch den Umzug viel kürzer geworden. In Neukölln wohnte ich zudem nur zur Untermiete. Ich habe mich auf der Sonnenallee aber wohlgefühlt. Man hat mir zwar gesagt, ich solle Angst haben, und ich hatte deshalb auch Angst, aber mir ist nie etwas passiert. Ich habe auch israelische Freunde, die in Neukölln wohnen, und die mir auch nie von Problemen berichten.

Wirklich? Auf der Sonnenallee Hebräisch zu sprechen oder mit der Kippa herumzulaufen, ist wahrscheinlich nicht die beste Idee.

Das kann sein. Ich bin keine religiöse Jüdin. Woanders jedoch scheint es zu funktionieren: Ich beschreibe in meinem Buch, wie in Antwerpen Menschen mit Burka und Schtreimel (jüdische Kopfbedeckung, die aus Fell besteht und vor allem zu Feiertagen getragen wird. Anm. d. Red.) auf einer Straße zu sehen sind und friedlich zusammenleben. Wie können wir das auch hier erreichen, auch in Neukölln?

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In Ihrem Buch schreiben Sie über einen Deutschen, der sich Ihnen gegenüber als Jude ausgegeben hat, obwohl er keiner ist, wie Sie später erfahren haben. Durch ihn sind Sie auf den Titel Ihres Buches „Judenfetisch“ gekommen. Wie war das?

Ich habe beobachtet, wie er versucht hat, sich als Jude zu erfinden und als der größte Israel-Liebhaber Deutschlands. Und als das nicht geklappt hat, hat er eine 180-Grad-Drehung vollzogen, sich durch extrem israelkritische Positionen eine Reichweite in den sozialen Medien verschafft und als Journalist etabliert. Doch ich kann seiner Israel-Kritik nicht vertrauen, auch wenn ich seine Ansichten manchmal naheliegend finde. Ich fände es besser, man würde die Israelis selbst zu Wort kommen lassen, als dass man paternalistisch als Deutscher sagt, was in ihrem Land abgeht.

Woher kommt dieses Phänomen?

Von Leerstellen in der eigenen Identität. Man sucht nach Festigung und findet sie in dem einzigen Identitätsangebot in diesem Land, das einigermaßen sicher scheint. Daran klammert man sich. Für mich ist das eine nachvollziehbare psychologische Entwicklung. Und es ist eine Folge der gescheiterten Erinnerungskultur, die es nicht geschafft hat, sich von der kollektiven auf eine individuelle Ebene zu übertragen.

Sie schreiben, dass es für Juden in Deutschland eigentlich nur zwei Bezugspunkte gibt: den Holocaust und Israel.

Ja, jeder Jude hier ist gezwungen, sich zu positionieren, denn Israel behauptet, für alle Juden zu sprechen, möchte jeden Juden auf der Welt zwingen, sich bedingungslos den Plänen der Rechtsnationalisten zu fügen. Sonst gilt man nicht als Jude und bekommt keinen Schutz vom jüdischen Staat. Wenn es uns hier schlecht geht, wenn wir Antisemitismus ausgesetzt sind, dann lautet ihre Lösung: Kommt doch zu uns und fügt euch.

Sie kritisieren die Angriffe Israels im Gazastreifen, fordern Frieden. Aber was würde das konkret bedeuten?

Über Schritte sprechen, die man tun müsste, eine Roadmap entwerfen. Es gibt überall auf der Welt gute Ideen. In der Washington Post forderte jemand, wenn Israel die Hamas ausmerzen wolle, müsste man Palästinenser aus Gaza nach Israel lassen. Die frühen Zionisten träumten von einem pluralistischen Land, in dem Juden und Palästinenser zusammen leben würden. Und daran glaube auch ich, an die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz.

Was wäre denn die Roadmap für Deutschland?

Deutschland muss sich von der Überzeugung verabschieden, aus der Geschichte gelernt zu haben, heißt, bedingungslos zu Israel zu stehen, egal, was Israel tut. Deutschland muss umdenken. Die Lehre aus dem Holocaust sollte sein, jüdisches Leben und das Leben aller Minderheiten in diesem Land zu schützen, sodass unsere Gesellschaft zusammenhält. Deutschland muss für jüdisches Leben sorgen, nicht für israelisches Leben. Das Jüdischsein ist viel größer als Israel. Entscheidet sich Deutschland für Israel, geht das auf Kosten vieler Juden.

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Auf Kosten der Netanjahu-Kritiker?

Auf Kosten aller Juden, die nicht die Vision von Israel als biblischen Staat teilen.

Es gibt seit den Demonstrationen auf der Sonnenallee eine Diskussion über muslimischen Antisemitismus. Manche sagen, das sei eine rassistische Zuschreibung, andere sagen, das sei die Realität. Wo stehen Sie?

Natürlich gibt es in der muslimischen Minderheit Antisemitismus. Es gibt ihn auch bei anderen Minderheiten, und es gibt ihn bei Deutschen. Im Sommer bin ich einem Typen an einem See in Mecklenburg begegnet, der ein Tattoo mit SS-Runen auf dem Oberarm trug. Judenhass ist so verbreitet. Die Deutschen versuchen, den eigenen Antisemitismus und die Angst davor auszulagern. Und es wird auch deshalb über muslimischen Antisemitismus geredet, um die Palästinenser unsichtbar zu machen: Lehrer, Ärzte, Künstler, die Teil der Gesellschaft sind. Tolerant, friedliebend, im Westen angekommen, mit einem Anspruch auf ihre Identität.

Warum melden diese Menschen sich jetzt nicht zu Wort? Warum gehen Juden für Palästinenser auf die Straße, aber nicht umgekehrt?

Ich bekomme von Palästinensern sehr viel Unterstützung, aber sie haben Angst, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Angst vor Ablehnung durch die deutsche Gesellschaft, vor Repressalien. Die Einzigen, die sich outen, sind die Gewalttätigen. Ich finde, es liegt eine Ironie darin, dass in einem Land, in dem einst Juden ihre Identität verstecken mussten, es nun Palästinenser tun müssen. Sie werden überall eingeladen, aber sie kommen nicht, denn sie vertrauen uns nicht.

Kommen sie vielleicht auch deshalb nicht, weil sie nicht die Position vertreten, die die Deutschen von ihnen erwarten?

Sie wissen, dass ihre Position plattgemacht wird, indem der israelische Botschafter eingeladen wird. Sie würden gegeneinander ausgespielt werden.

In Ihrem Buch „Judenfetisch“ loben Sie die Art, wie der ukrainische Präsident Selenskyj mit seinem Judentum umgeht. Was gefällt Ihnen daran?

Selenskyj ist der einzige Jude in unserer Gegenwart, der eine Führungsfigur ist und nicht mit Israel in Verbindung steht. 73 Prozent seiner Landsleute haben ihn gewählt, aber nicht, weil er Jude ist. Sein Jüdischsein ist absolute Nebensache. So sollte es sein.

Und Sie sind für Waffenlieferungen an die Ukraine, aber gegen den Krieg in Gaza. Wie passt das zusammen?

Ich lebe, weil meine Großmutter von den Briten aus Bergen-Belsen gerettet wurde, weil die Amerikaner in den Zweiten Weltkrieg eingetreten sind. Ich sehe den Krieg in der Ukraine als einen Krieg für die Freiheit, gegen das Böse. Aber der Krieg in Israel ist ein ewiger Krieg, für den es keinen Ausweg gibt. Das ist so gewollt.

Aber Israel greift ja nicht von sich aus an.

Eine palästinensische Freundin von mir sagt: Bringt es uns heute etwas, wenn wir nur in die Geschichte schauen? Wir leben im Hier und Jetzt. Egal, was wir in unserem Gespräch in Bezug auf die Vergangenheit klären können, es wird die Gegenwart nicht verändern. Israel existiert: das Land, die Kultur, die Sprache. Auch eine palästinensische Person kann verstehen, dass Israel Realität ist. Aber auch die Staatenlosigkeit der Palästinenser existiert. Wenn wir bereit sind, auf dieses ewige „Wer war zuerst da“ zu verzichten, können wir auf dieser Realität etwas Neues aufbauen.

Dann müssten die Palästinenser die Schlüssel für ihre alten Häuser in Israel wegwerfen. Und was ist mit den Landkarten, auf denen es Israel gar nicht gibt?

Wenn wir uns schrittweise auf eine Lösung zubewegen, dann wird man einen Weg finden, Kompromisse einzugehen, palästinensische und israelische Identität gleichzeitig zu ermöglichen. Es wird sehr lange dauern, es wird sehr hart sein, und es wird viele Momente der Hoffnungslosigkeit geben. Aber es ist möglich, wenn die Welt diejenigen Menschen unterstützt, die das wollen, und nicht die anderen, die das nicht wollen.

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QOSHE - Deborah Feldman: „Man darf in Deutschland nur auf bestimmte Art über Israel sprechen“ - Anja Reich
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Deborah Feldman: „Man darf in Deutschland nur auf bestimmte Art über Israel sprechen“

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08.11.2023

Ein Café in Berlin-Schöneberg, mittags um 12 Uhr. Deborah Feldman bestellt frisch gepressten Orangensaft und stilles Wasser mit Eiswürfeln und Zitrone. Sie hat wenig geschlafen in den letzten Nächten. Ihr neues Buch, der Auftritt bei Markus Lanz, und geheiratet hat sie auch. Feldman, Enkelin von Holocaust-Überlebenden, Aussteigerin aus einer ultraorthodoxen Gemeinde in New York, Bestsellerautorin, Mutter eines 18-jährigen Sohnes, lebt seit zehn Jahren in Berlin und gerät hier gerade mit ihren Thesen über jüdische Identität und ihrer Solidarität für Palästinenser in die Frontlinie des Streits, was die deutsche Staatsräson gegenüber Israel bedeutet.

Feldman kritisierte die verschobene Preisverleihung für die palästinensische Autorin Adania Shibli, unterschrieb einen Offenen Brief von 1200 Intellektuellen dagegen, sagt, die einzige Lehre aus dem Holocaust müsse die bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle sein. Dafür wird sie angegriffen. Ein Autor der Jüdischen Allgemeinen schrieb in den sozialen Medien, er habe „strafbewehrte Gedanken“ über Feldman als Geisel der Hamas. Der Chefredakteur und der Autor haben sich inzwischen bei Feldman entschuldigt, aber der Schock darüber ist ihr im Gespräch noch anzumerken. Und auch ihre Entschiedenheit, sich nicht zum Schweigen bringen zu lassen.

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Ich bin gerade dabei, zu verarbeiten, dass meine schlimmsten Ängste in Erfüllung gehen.

Ängste wovor?

Was auf uns zukommt, die politischen Veränderungen nicht nur in Israel, sondern in der ganzen Welt, Angst vor einem Zivilisationsbruch. Niemand kann sich das Schlimmste vorstellen, ich aber kann es aufgrund meiner Lebensgeschichte. Mir schwebten solche Szenarien in zehn oder zwanzig Jahren vor, die Lage spitzt sich aber jetzt zu. Damit habe ich nicht gerechnet.

Mit so einem Massaker wie dem der Hamas haben Sie nicht gerechnet?

Meine Großmutter hat mir immer gesagt, dass es wieder passieren wird. Sie sagte, der Holocaust wird wiederkommen, wiederkommen, wiederkommen.

Wie hat Ihre Großmutter das begründet?

Sie hat gesagt, die Pogrome geschehen zyklusartig und regelmäßig und es gebe keinen Grund, warum es jetzt anders sein sollte. Sie sagte aber auch, es passiert niemals gleich, immer auf neue Art, und immer genau aus der Ecke, auf die man gerade nicht schaut. Margot Friedländer sagt, wir dürfen die Begriffe der Vergangenheit nicht auf die Gegenwart anwenden. Das glaube ich auch. Wenn man sah, wie sich die Lage in Israel verändert hat, wie sich die Menschen radikalisierten, die Siedler sich immer mehr Freiheiten nahmen, jenseits aller Gesetze zu agieren, hat man etwas kommen sehen. Alle haben etwas kommen sehen. Netanjahu wurde gewarnt, auch die Sicherheitsdienste.

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An dem Freitag, als die Hamas zu Gewalt gegen Juden in aller Welt aufgerufen hat, habe ich mit meinem Sohn geredet, ihm gesagt, er solle aufpassen. Aber wie diese Angst hier instrumentalisiert wird, regt mich auf. Letztens sammelte eine Sonntagszeitung jüdische Stimmen zu ihrem derzeitigen Leben in Deutschland. Und wen fragten sie zuerst: eine Christin! In dem Artikel wird sie als Jüdin dargestellt, sie schickt ihren getauften Sohn aufs Jüdische Gymnasium, und an dem Tag, als die Hamas zu Gewalt gegen Juden in der ganzen Welt aufrief, war er einer von nur zwei Schülern in der Klasse. Die anderen sind zu Hause geblieben. Sie sprach von „teilweisen Überreaktionen“. Das muss man sich mal vorstellen: Eine große deutsche Zeitung bringt ein Gespräch über die Lebensrealitäten von Juden in diesem Land, und darin sagt eine Christin über die Juden: Ihr reagiert über. Das ist eine Farce.

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© Berliner Zeitung


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