Zeruya Shalev tritt aus dem Fahrstuhl eines Hotels in der Berliner Friedrichstraße, setzt sich an einen Tisch im Café. Eine schmale Frau mit Haaren bis zur Taille, die immer noch jung wirkt, obwohl ihre älteste Tochter schon Mitte 30 ist. Und immer noch geheimnisvoll, obwohl sie vieles, was in ihrem Leben geschehen ist, in ihren Romanen verarbeitet hat: Affären, Trennungen, Angst um ihre Kinder, den Terroranschlag auf einen Bus in Jerusalem, bei dem sie schwer verletzt wurde.

In ihrem neuen Buch „Nicht ich“ scheint nichts verarbeitet, es liest sich wie ein in Worte gefasster Wutanfall einer jungen Frau, die Mann und Tochter für ihren Geliebten verlässt und in eine Art Traum oder Wahn gerät.

Und eigentlich ist es gar nicht neu, das Buch. Es ist 1993 das erste Mal erschienen, wurde aber so verrissen, dass die Autorin es am liebsten gleich wieder vergessen wollte. Sie habe sich lange dafür geschämt, sagt sie im Café in der Friedrichstraße. Und sich nun dennoch entschieden, es noch einmal zu veröffentlichen.

Deshalb ist sie in diesen Wintertagen nach Berlin gekommen, hat zum ersten Mal nach dem Angriff der Hamas auf Israel vor vier Monaten ihr Land verlassen. Im Interview spricht sie über beides, ihr Leben nach dem Terroranschlag und ihr altes, neues Buch.

Frau Shalev, wie haben Sie am 7. Oktober von dem Angriff der Hamas auf Israel erfahren?

Ich war zu Hause in Haifa, hatte Corona, lag im Bett, als mir meine Schwiegermutter, die in Tel Aviv lebt, eine Nachricht schickte. Ständig würden die Sirenen heulen, sie wüsste nicht, was los sei. Ich habe sofort den Fernseher angemacht. Nach wenigen Stunden war klar, das ist das Schlimmste, was jemals in Israel passiert ist.

Sie haben drei erwachsene Kinder. Müssen die jetzt im Krieg kämpfen?

Nein, aber nächstes Jahr wird mein jüngster Sohn zum Militär eingezogen. Und er will es unbedingt, was mich sehr verängstigt.

Hat das mit dem 7. Oktober zu tun?

Er ist sehr athletisch, macht viel Sport, ist furchtlos. Die Armee hat ihn schon immer fasziniert. Durch den 7. Oktober ist sein Wunsch, im Militär zu dienen, noch größer geworden, leider, am liebsten möchte er in eine Kampfeinheit. Zum Glück ist noch ein Jahr Zeit, er ist 17. Es wäre das erste Mal, dass eines meiner Kinder an der Front kämpfen würde. Meine anderen Kinder waren auch beim Militär, aber sie haben dort nur Unterricht gegeben.

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Und Sie selbst?

Als ich zum Militär eingezogen wurde, waren Mädchen grundsätzlich noch nicht am Kampfgeschehen beteiligt. Es hat sich viel verändert. Frauen kämpfen jetzt wie Männer. Und Kinder werden – wie am 7. Oktober geschehen – ermordet, ohne in der Armee zu kämpfen.

Wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?

Ich habe aufgehört zu schreiben, habe nicht mal mehr das Dokument für das Buch, das ich gerade angefangen hatte, geöffnet, sondern sofort Artikel für Zeitungen und Reden verfasst. Vor zwei Wochen habe ich auf einer Demonstration gegen die Regierung gesprochen und auf einer anderen für die Freilassung der Geiseln.

Ist das der gleiche Kampf: der Protest gegen die Regierung und der für die Freilassung der Geiseln?

Für mich ist er es. Aber die Familien der Geiseln haben Angst, dass man sie mit den Antiregierungsprotesten zusammenbringt. Dass die Regierung dann nicht mehr für die Befreiung der Geiseln kämpft. Netanjahu steht unter Druck. Die Mehrheit der Israelis will, dass er abtritt. Er hat noch nie so schlechte Umfragewerte gehabt wie jetzt. Weniger als 20 Prozent vertrauen ihm noch. Und das mitten in einem Krieg, in dem das Volk seinen Führer normalerweise unterstützt. Bei uns ist es umgekehrt. Es fühlt sich an, als wären wir auch Geiseln. Von Netanjahu und seiner schrecklichen Regierung.

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Für wie realistisch halten Sie es, dass die Regierung abtreten muss, noch während des Krieges?

Netanjahus Argument ist, dass ein Regierungswechsel jetzt nicht gut wäre für das Land. Aber ich denke, es wäre gut, wenn es sehr kurzfristig Neuwahlen gäbe, ohne diese ganzen Szenarien vor Wahlen, ohne die Propaganda, für die er bekannt ist. Schon lange vor dem 7. Oktober war klar, diese Regierung wird uns in die Katastrophe führen. Mit einem Land wie Israel, das von Feinden umgeben ist, darf man nicht spielen, ohne seine Existenz aufs Spiel zu setzen.

Netanjahu hat mit Israel gespielt?

Ja, wie ein Kind mit einem Spielzeug. Er hat keine einzige Warnung ernst genommen, nicht die vom Verteidigungsminister, nicht die vom Chef der IDF, des Militärs. Das Einzige, was ihm wichtig war: die eigene Regierung zu stärken, die Demokratie zu schwächen. Er war auf dem besten Weg, unser Land in eine Diktatur zu verwandeln, damit er für immer Premierminister bleiben kann.

Sie wurden 2004 bei einem palästinensischen Selbstmordanschlag auf einen vollbesetzten Bus in Jerusalem schwer verletzt. War der 7. Oktober eine Retraumatisierung für Sie?

Das, was jetzt passiert ist, ist so viel größer, so viel schlimmer. Aber ja, das Gefühl war das gleiche wie jetzt.

Auch damals konnten Sie nicht mehr schreiben.

Ja. Literatur ist gerade nicht wichtig. Ich wünschte, ich könnte einfach zu meinem Roman zurückkehren, aber das ist unmöglich. Wie kann man sich Geschichten ausdenken, wenn das Land voller schrecklicher Geschichten ist? Den Sadismus der Hamas-Terroristen könnte ich mir in meiner schlimmsten Vorstellung nicht ausdenken.

Über die israelischen Opfer der Hamas wird angesichts der Tausenden Opfer des Krieges im Gazastreifen kaum noch geredet. Wie ist das für Sie?

Es tut sehr weh zu sehen, wie schnell die Gräueltaten der Hamas vergessen wurden, wie viel Unterstützung sie jetzt weltweit bekommen. Ich würde mir wünschen, dass sich die Menschen, die auf Anti-Israel-Demonstrationen gehen, mit den Fakten beschäftigen und mit der Geschichte Israels.

Was würden Sie diesen Menschen sagen?

Dass wir, die Israelis, für Menschlichkeit kämpfen, gegen eine Terrororganisation, die mit IS oder Al-Kaida zu vergleichen ist. Dass sich der Terror der Hamas nicht nur gegen uns, sondern auch gegen die Palästinenser richtet. Sie missbrauchen ihre Landsleute als menschliche Schutzschilde, indem sie sich in zivilen Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten oder Krankenhäusern verstecken. Mir bricht es das Herz, mit anzusehen, was in Gaza passiert, es ist eine große Tragödie, die mit dem 7. Oktober begann, mit dem Angriff der Hamas. Wir haben diesen Krieg nicht begonnen.

Auch in Deutschland, wo Sie und Ihre Bücher sehr geliebt werden, gibt es Demonstrationen gegen Israel. Ist es für Sie diesmal anders, hier zu sein?

Ich bin erst vor wenigen Tagen gelandet und wurde sehr herzlich empfangen. Vielleicht ändert sich das auf den nächsten Lesungen. Dann erkläre ich gerne, was ich denke, wie ich die Situation sehe. Ich glaube an Dialog.

Reden wir über Ihr Buch, die Geschichte einer jungen Frau, die ihren Mann und ihr Kind verlässt und in eine Art Albtraum gerät. Können Sie die Frau beschreiben, die Sie waren, als Sie dieses Buch geschrieben haben?

Ich war damals noch eine Dichterin, keine Schriftstellerin. Selbst als ich schon an der Geschichte schrieb, habe ich noch gedacht, es wird ein Gedicht, merkte aber, die Sätze werden länger, die Seiten füllen sich, und ich war noch längst nicht am Ende angekommen.

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Wo kam diese Geschichte her, die aus Gedankenfetzen besteht, sich wie ein Traum liest?

Definitiv nicht aus einem Traum, ich schreibe nie über meine Träume. Das Schreiben daran aber hatte etwas Traumhaftes. Meine Tochter war drei. Mutter zu sein, hat mich sehr verändert. Ich war sehr ängstlich, sehr besorgt um sie. Eigene Ängste aus meiner Kindheit kamen zurück. Ängste, die jetzt am 7. Oktober Realität wurden. Die Kinder, die den Eltern weggenommen und in Tunneln festgehalten werden. Auf der anderen Seite war da viel Ambivalenz. Mutterschaft fühlte sich so absolut an, so bedingungslos. So viele Fragen tauchten auf. Über meine Rolle als Mutter, Ehefrau, Tochter. Über Monogamie, ob man sich noch einmal verlieben kann, wenn man verheiratet ist. Das Buch reflektiert diese Gefühle und Fragen.

Also ist es Ihre Geschichte?

Ich hatte damals eine Nachbarin, älter als ich, die meine Erzählung sehr beeinflusst hat. Sie erzählte mir, dass sie sich in einen Mann verliebt hatte, der nicht jüdisch war, und wie sie alles verlor: ihre Ehe, ihr Haus und auch ihre Kinder. Ihr Mann nahm sie mit in ein anderes Land, die Frau musste das Sorgerecht abgeben, sah ihre Kinder viele Jahre lang nicht mehr. Sie lebte genau neben mir, und wenn ich sie ansah, konnte ich ihren Schmerz fühlen, und ich fragte mich, wie schafft sie es, damit weiterzuleben. Als ich selbst Mutter wurde und meine Ehe bröckelte, ist diese Geschichte zu mir zurückgekommen, und es gab Momente, in denen ich den Eindruck hatte, ich erlebe dasselbe. Aber ein Roman hat seine eigene Logik, seinen eigenen Verlauf.

Hat Ihr Roman eine Logik? Es wirkt, als würde die Protagonistin ihre ganze Wut, ihr Leid, ihre Ängste einfach nur herausschreien.

Gute Frage! Es ist die Logik des Unbewussten, denke ich.

Wie war es damals, so ein Buch in Israel zu veröffentlichen, einem Land, in dem es ein eher konservatives Frauenbild gibt?

Die Reaktionen der Kritiker waren schrecklich. Meine Protagonisten wurden verurteilt, sehr moralisierend.

Was stand in den Kritiken?

Dass meine Protagonistin sich wie ein Kind verhält, keine gute Mutter ist, völlig verantwortungslos. Dabei handelte es sich um literarische Überhöhung, einen Roman. Wer will schon ein Buch über perfekte Menschen lesen! Heute kann ich die Reaktionen ein wenig besser verstehen. Meine Protagonistin war mutig, egoistisch, aggressiv, alles andere als nett und zuvorkommend.

Haben Sie die Kritik persönlich genommen?

Ja, natürlich. Es fühlte sich wie Lynchjustiz an. Für mich war das so traumatisch, dass ich fast mit dem Schreiben aufgehört hätte. Die Rezensionen standen damals immer freitags in der Zeitung, und ich weiß noch genau, wie ich jeden Freitag, wenn ich die Zeitungsstapel vor den Kiosken sah, zu zittern begann. Und dachte: Was kommt jetzt wieder auf mich zu! Ich habe Selbstvertrauen verloren in meine Fähigkeiten, fürchtete, aus dem Verlag, in dem ich als Lektorin arbeitete, entlassen zu werden, weil sich Autoren weigerten, mit mir weiter zusammenzuarbeiten. Ich konnte mein Buch jahrelang nicht einmal mehr aufschlagen.

Wo stand es? Bei Ihnen zu Hause?

Ja, im Regal, neben meinen anderen Büchern. Manchmal habe ich es berührt, aber für mehr reichte meine Kraft nicht aus. Dabei wurde es schon ein paar Jahre nach Erscheinen sehr gelobt, es wurden sogar Studien darüber verfasst. Und immer wieder haben mich Verleger gefragt, ob ich es nicht noch einmal veröffentlichen würde. Ich sagte, nein, lieber nicht. Aber dann, vor zwei Jahren, schlug ich es auf und konnte mit dem Lesen nicht mehr aufhören. Zweimal hintereinander habe ich es gelesen.

Wie hat sich das angefühlt?

Viel besser, als ich dachte. Eine positive Überraschung. Ich mochte es. Die Entfremdung war verschwunden. Ich konnte den Mut der Protagonistin anerkennen.

Und den der Autorin?

Ja. Etwas, was mir sehr selten passiert.

Wie hieß das Buch damals?

Anders als jetzt: „Tanzen und nicht stillstehen“.

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Warum haben Sie es nun „Nicht ich“ genannt? Es klingt, als würden Sie sich davon distanzieren wollen.

Weil das mein erstes Gefühl war, als ich mit dem Schreiben begann. Wer ist sie? Das bin nicht ich! Ich bin keine Mutter, ich bin keine Tochter, ich bin keine Ehefrau. Alles war negativ. Zu diesem Gefühl bin ich zurückgekehrt.

Wer waren Sie dann?

Nur die Schreiberin, die Dienerin des Buches, die auf die Stimme in mir hörte, die richtigen Worte finden musste, auch wenn es Motive darin gibt, mit denen ich mich identifiziere. So ist es bei jedem meiner Bücher. Sogar wenn ich über so etwas wie den Terroranschlag, bei dem ich verletzt wurde, schreibe, bin das nicht ich.

Was ist aus Ihrer Nachbarin geworden?

Ich habe sie noch einmal getroffen, vor 15 Jahren vielleicht, es ging ihr besser. Ihre Kinder sind erwachsen, sie hat einen guten Kontakt zu ihnen.

Wie gehen Sie heute mit schlechten Kritiken um?

Anders. Man kann nicht immer nur erwarten, geliebt zu werden und Komplimente zu bekommen. Das weiß ich jetzt. Schreiben ist hart. Und das Leben eines Buches ist ein Mysterium. Man weiß nie, was damit passieren wird. Ich habe gelernt, Kritik nicht so dicht an mich heranzulassen. Aber auch, dass Krisen einen stärker machen können, uns lehren, Dinge aus einer größeren Perspektive zu betrachten. Leicht ist es aber immer noch nicht.

Wie sind diesmal die Reaktionen auf Ihr Buch?

In Israel ist es noch nicht erschienen, aber hier in Deutschland sind die Reaktionen sehr gut.

Wie erklären Sie sich das?

Die Gesellschaft ist offener geworden, eher daran gewöhnt, sich mit anderen Wahrnehmungen, anderen Wahrheiten auseinanderzusetzen. Fake News sind schrecklich, aber auch sie gehören zu diesen anderen Wahrheiten und Perspektiven. Mein Buch, meine Literatur passt besser in die Welt, als das vor 30 Jahren der Fall war.

Hat das auch damit zu tun, dass Frauen viel selbstbewusster geworden sind?

Ja, Frauen sind heute viel offener gegenüber Ambivalenzen und alternativen Familienmodellen geworden, lösen sich immer mehr von den Vorstellungen, die besten und freundlichsten Wesen zu sein und die vorbildlichsten Mütter und Ehefrauen. Sie haben ihre ganz eigenen Vorstellungen von Sexualität, von Männern und Kindern, von allem. Und werden deswegen nicht mehr geächtet, sondern akzeptiert.

Sie sagten vorhin, Sie könnten seit dem 7. Oktober nicht mehr schreiben. Wie fühlt es sich an, übers Schreiben zu reden, jetzt bei diesem Interview zum Beispiel?

Es fiel mir sehr schwer, Israel zu verlassen, ich hatte Angst, die Hisbollah könnte in meiner Abwesenheit einen Krieg im Norden beginnen. Im Flugzeug bin ich eingeschlafen und hatte einen Albtraum, dass Haifa, die Stadt, in der ich lebe, bombardiert wird. Aber jetzt, da ich hier bin, geht es mir besser. Ich lese zwar jede halbe Stunde die Nachrichten, aber ich kann endlich mal wieder ein wenig durchatmen.

QOSHE - Bestsellerautorin Zeruya Shalev: „Mein Sohn will unbedingt in der israelischen Armee kämpfen“ - Anja Reich
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Bestsellerautorin Zeruya Shalev: „Mein Sohn will unbedingt in der israelischen Armee kämpfen“

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04.02.2024

Zeruya Shalev tritt aus dem Fahrstuhl eines Hotels in der Berliner Friedrichstraße, setzt sich an einen Tisch im Café. Eine schmale Frau mit Haaren bis zur Taille, die immer noch jung wirkt, obwohl ihre älteste Tochter schon Mitte 30 ist. Und immer noch geheimnisvoll, obwohl sie vieles, was in ihrem Leben geschehen ist, in ihren Romanen verarbeitet hat: Affären, Trennungen, Angst um ihre Kinder, den Terroranschlag auf einen Bus in Jerusalem, bei dem sie schwer verletzt wurde.

In ihrem neuen Buch „Nicht ich“ scheint nichts verarbeitet, es liest sich wie ein in Worte gefasster Wutanfall einer jungen Frau, die Mann und Tochter für ihren Geliebten verlässt und in eine Art Traum oder Wahn gerät.

Und eigentlich ist es gar nicht neu, das Buch. Es ist 1993 das erste Mal erschienen, wurde aber so verrissen, dass die Autorin es am liebsten gleich wieder vergessen wollte. Sie habe sich lange dafür geschämt, sagt sie im Café in der Friedrichstraße. Und sich nun dennoch entschieden, es noch einmal zu veröffentlichen.

Deshalb ist sie in diesen Wintertagen nach Berlin gekommen, hat zum ersten Mal nach dem Angriff der Hamas auf Israel vor vier Monaten ihr Land verlassen. Im Interview spricht sie über beides, ihr Leben nach dem Terroranschlag und ihr altes, neues Buch.

Frau Shalev, wie haben Sie am 7. Oktober von dem Angriff der Hamas auf Israel erfahren?

Ich war zu Hause in Haifa, hatte Corona, lag im Bett, als mir meine Schwiegermutter, die in Tel Aviv lebt, eine Nachricht schickte. Ständig würden die Sirenen heulen, sie wüsste nicht, was los sei. Ich habe sofort den Fernseher angemacht. Nach wenigen Stunden war klar, das ist das Schlimmste, was jemals in Israel passiert ist.

Sie haben drei erwachsene Kinder. Müssen die jetzt im Krieg kämpfen?

Nein, aber nächstes Jahr wird mein jüngster Sohn zum Militär eingezogen. Und er will es unbedingt, was mich sehr verängstigt.

Hat das mit dem 7. Oktober zu tun?

Er ist sehr athletisch, macht viel Sport, ist furchtlos. Die Armee hat ihn schon immer fasziniert. Durch den 7. Oktober ist sein Wunsch, im Militär zu dienen, noch größer geworden, leider, am liebsten möchte er in eine Kampfeinheit. Zum Glück ist noch ein Jahr Zeit, er ist 17. Es wäre das erste Mal, dass eines meiner Kinder an der Front kämpfen würde. Meine anderen Kinder waren auch beim Militär, aber sie haben dort nur Unterricht gegeben.

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Und Sie selbst?

Als ich zum Militär eingezogen wurde, waren Mädchen grundsätzlich noch nicht am Kampfgeschehen beteiligt. Es hat sich viel verändert. Frauen kämpfen jetzt wie Männer. Und Kinder werden – wie am 7. Oktober geschehen – ermordet, ohne in der Armee zu kämpfen.

Wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?

Ich habe aufgehört zu schreiben, habe nicht mal mehr das Dokument für das Buch, das ich gerade angefangen hatte, geöffnet, sondern sofort Artikel für Zeitungen und Reden verfasst. Vor zwei Wochen habe ich auf einer Demonstration gegen die Regierung gesprochen und auf einer anderen für die Freilassung der Geiseln.

Ist das der gleiche Kampf: der Protest gegen die Regierung und der für die Freilassung der Geiseln?

Für mich ist er es. Aber die Familien der Geiseln haben Angst, dass man sie mit den Antiregierungsprotesten zusammenbringt. Dass die Regierung dann nicht mehr für die Befreiung der Geiseln kämpft. Netanjahu steht unter Druck. Die Mehrheit der Israelis will, dass er abtritt. Er hat noch nie so schlechte Umfragewerte gehabt wie jetzt. Weniger als 20 Prozent vertrauen ihm noch. Und das mitten in einem Krieg, in dem das Volk seinen Führer........

© Berliner Zeitung


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