Wenn meine Tochter zu Besuch kommt, führt ihr erster Gang zum Kühlschrank. Tür auf, gucken, was da ist, Tür zu, enttäuschter Blick. Die Zeiten, da ich Vorräte anhäufe, sind vorbei, seit die Kinder ausgezogen sind. Meist fällt mir erst abends ein, dass mein Mann und ich ja noch was essen müssen, und einer von uns läuft schnell zum Lekr-Markt oder zur Biocompany.

Vor einem halben Jahr aber erreichte mich eine Nachricht, die unsere Familienroutine durcheinanderbrachte: Die Galeries Lafayette macht zu, das Lafayette, wie wir zu Hause sagen. Das Kaufhaus in der Friedrichstraße mit der besten Käsetheke in der Stadt, in dem es echte französische Baguettes gibt, Austern aus der Bucht von Arcachon und Entenstopfleber, die ich nicht mehr esse. Eigentlich. Denn jetzt ist alles anders. Das hat mit dem Lafayette zu tun. Aber auch mit mir.

1996, als es aufmachte, wohnte ich drei Straßen weiter. Eine seltsame Gegend. Brandenburger Tor, Reichstag, Führerbunker, russische Botschaft. In den Plattenbauten aus den letzten Tagen der DDR wohnten Joachim Gauck, Angela Merkel, Günter Schabowski und David, der Kita-Freund meines Sohnes.

An der Fassade der Schwimmhalle, in die ich mit meinem Sohn zum Babyschwimmen ging, hing ein großer Lenin-Kopf. Im Kino vom Russischen Haus sahen wir „König der Löwen“. Essen gingen wir ins Nö in der Glinkastraße oder ins Borchardt. Und zum Einkaufen in den Ulrich-Markt oder ins Lafayette.

Die Verkäuferinnen hatten einen französischen Akzent, ich hatte die Lafayette-Kundenkarte.

26.03.2024

26.03.2024

•gestern

26.03.2024

gestern

Die Eröffnung war ein Ereignis, der gläserne Fahrstuhl eine Sensation. Mein Sohn wollte immer wieder hoch- und runterfahren. Und danach ein Schokocroissant essen. Die Verkäuferinnen hatten einen französischen Akzent, ich hatte die Lafayette-Kundenkarte, trug Blusen von Agnès B. und fühlte mich wie eine Weltenbürgerin.

Wilhelmstraße: Das letzte sozialistische Haus und ich

23.09.2021

Joe Chialo: Ich halte an der Zentralbibliothek in der Friedrichstraße fest

31.12.2023

Als wir Ende der 90er wegzogen, von Berlin-Mitte nach Brooklyn, blieb ich dem Kaufhaus treu, fuhr, kaum in Berlin gelandet, in die Friedrichstraße. Von Macy’s ins Lafayette, vom Big Apple ins Herz von Europa. So sah ich das. Auch dann noch, als das Kaufhaus mit den Jahren leerer wurde, ich meine Kundenkarte verlor und die Blusen von Agnès B. manchmal spießig fand.

Zurück in Berlin suchte ich mir einen neuen Zahnarzt. Seine Praxis befand sich im selben Haus wie das Lafayette. Nach jeder Behandlung schaute ich in der Damenabteilung vorbei, kaufte Käse bei der Verkäuferin mit dem ondulierten Pony, die ich noch aus den 90ern kannte. Manchmal war ich die einzige Kundin. Auf den Gedanken aber, das Kaufhaus könnte schließen, kam ich nie. Es stand da für die Ewigkeit: ein Stück Frankreich im alten Ost-Berlin, ein bisschen Weltstadt zwischen DDR-Plattenbauten, ein Symbol für das Berlin der Übergangszeit, für all die Versprechungen, die damit verbunden waren.

Im Frankreich von Berlin-Mitte herrscht eine Stimmung wie in den letzten Tagen der DDR.

Nur so kann ich es mir erklären, warum mich die Nachricht von der Schließung so erschüttert, warum ich, auch ohne Zahnarzttermin zur Friedrichstraße fahre, um die neue Agnès-B-Kollektion zu begutachten und Käsenachschub zu besorgen. Und jedes Mal fürchte, es könnte das letzte Mal sein.

Niemand kann sagen, wann das Lafayette schließt. Im November war von Ende Februar die Rede, Ende Februar von diesem Sommer. Die Verkäuferinnen zucken die Schultern.

Sie kennen mich inzwischen, ich bin die Stammkundin ohne Kundenkarte. Den Rabatt bekomme ich trotzdem. Im Frankreich von Berlin-Mitte herrscht so eine aufgekratzte Endzeitstimmung wie in den letzten Tagen der DDR. Meine Tochter, die zu jung ist, um meine sentimentalen Gefühle zu verstehen, sagt: Wenn das Lafayette nicht bald schließe, könnten wir selbst einen Käseladen aufmachen.

QOSHE - Austern, Lenin und Angela Merkel: Wie das Lafayette Ost-Berlin zur Weltstadt machte - Anja Reich
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Austern, Lenin und Angela Merkel: Wie das Lafayette Ost-Berlin zur Weltstadt machte

8 9
28.03.2024

Wenn meine Tochter zu Besuch kommt, führt ihr erster Gang zum Kühlschrank. Tür auf, gucken, was da ist, Tür zu, enttäuschter Blick. Die Zeiten, da ich Vorräte anhäufe, sind vorbei, seit die Kinder ausgezogen sind. Meist fällt mir erst abends ein, dass mein Mann und ich ja noch was essen müssen, und einer von uns läuft schnell zum Lekr-Markt oder zur Biocompany.

Vor einem halben Jahr aber erreichte mich eine Nachricht, die unsere Familienroutine durcheinanderbrachte: Die Galeries Lafayette macht zu, das Lafayette, wie wir zu Hause sagen. Das Kaufhaus in der Friedrichstraße mit der besten Käsetheke in der Stadt, in dem es echte französische Baguettes gibt, Austern aus der Bucht von Arcachon und Entenstopfleber, die ich nicht mehr esse. Eigentlich. Denn jetzt ist alles anders. Das hat mit dem Lafayette zu tun. Aber auch mit mir.

1996, als es aufmachte, wohnte ich drei Straßen weiter. Eine seltsame Gegend. Brandenburger Tor, Reichstag, Führerbunker, russische Botschaft.........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play