Ich bin gerne im Berliner Westen in diesen Tagen, im tiefen Westen. Am Botanischen Garten zum Beispiel, wo man sich im Café zwischen dem „Frühstück Lichterfelde“ (Croissant, Café Crema, Konfitüre) und dem „Frühstück Wannsee“ (Quark, frisches Obst, Tee, Orangensaft) entscheiden muss. Wo am Zeitungs- und Lottoladen das Schild „Pause bis 14 Uhr“ hängt, wo die alten Zeitungsaufsteller mit der alten Werbung stehen: „Heute schon B.Z. gelesen?“ und ein Plakat für die Räuber-Hotzenplotz-Vorstellung in der Kirchengemeinde wirbt.

Das Leben scheint langsamer dort, die Leute scheinen mehr Zeit, bessere Laune und die unumstößliche Gewissheit zu haben, dass alles immer so weitergeht: Frühstück Wannsee, Räuber Hotzenplotz, Pause bis 14 Uhr. Ich genieße das. Wie man etwas genießt, das es nicht mehr lange geben könnte. Meine Ausflüge in den Westen kommen mir vor wie ein Abschied von einer Welt, in der ich nie so richtig angekommen bin.

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Es klingt seltsam, ich weiß. Und der Westen kann überhaupt nichts dafür. Die Ostdeutschen sind schuld, mit ihrem Mut, ihrer Kraft, ihrer Lust, alles einzureißen, jede Gewissheit infrage zu stellen. Sie haben damals, vor 34 Jahren, Maßstäbe gesetzt, an denen ich von da an alles gemessen habe, nach denen mir das bundesrepublikanische Leben oft langweilig vorkam, die Gespräche zu gepflegt, zu belanglos. Es ging um die Erhaltung eines Zustandes, die immer gleichen Querelen zwischen den immer gleichen Parteien, den nächsten Urlaub, die neue Wohnung, das neue Auto.

Ich konnte erstmals quatschen, wie ich wollte, dabei stellte sich heraus, du hast eine Position. Es war atemberaubend.

Ich sehnte mich nach der wilden Wendezeit zurück, in der nichts blieb, wie es war. Vor allem die Diskussionen fehlten mir. „Ich konnte erstmals quatschen, wie ich wollte, dabei stellte sich heraus, du hast eine Position. Es war atemberaubend“, sagte Günter Schabowski über die Tage, in denen er mit seinem Versprecher zum Reisegesetz die Mauer zum Einsturz gebracht hatte. „So viel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden“, sagte Christa Wolf bei der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. „Wir schlafen nicht oder wenig, wir befreunden uns mit neuen Menschen, und wir zerstreiten uns schmerzhaft mit anderen.“

Es ist eine Erfahrung, die mein Leben geprägt hat. Das Reden, Streiten, Zweifeln. Kein Satz stört mich mehr als: Das ist nicht die richtige Haltung. Kein Einwand löst so viel Widerstand in mir aus wie: Darf man das denn sagen? Ich fühle mich unwohl mit Menschen, bei denen ich merke, sie halten sich zurück, aus Angst oder taktischen Gründen oder warum auch immer. Und liebe es, wenn Leute sich um Kopf und Kragen reden, sagen, was sie wirklich denken.

Die DDR wird oft als Diktatur beschrieben und selten als das Land, das Reformen eingeleitet und seine Staatsmacht gestürzt hat.

Ich habe daran andere Ostdeutsche erkannt, auch noch viele Jahre nach dem Mauerfall, auch welche, die 1989 noch Kinder waren. Nicht sagen, was die Chefs erwarten, offen sein für andere Meinungen, damit rechnen, dass jeden Moment alles zu Ende sein könnte, keine Angst vor der Zukunft haben.

Aber während ich das schreibe, merke ich, ich beschwöre Erinnerungen, die zur Vergangenheit gehören. Es ist 34 Jahre her, fast ein halbes Menschenleben. Die wunderbare Christa Wolf ist tot, genau wie der zerstreute Günter Schabowski. Die DDR wird heute vor allem als Diktatur beschrieben und selten als das Land, das Reformen eingeleitet, wilde Debatten geführt, seine Staatsmacht gestürzt hat. Revolutionäre von damals erzählen mir heute Verschwörungstheorien über Juden, über Politiker, über den 11. September. In dem brandenburgischen Ort, in dem ich meine Wochenenden verbringe, haben bei der Landratswahl mehr als 50 Prozent für den AfD-Kandidaten gestimmt. Wer diese Leute sind, weiß ich nicht. Das Volk schweigt wieder, hat das Reden und Streiten verlernt.

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Der 9. November ist der Tag in der Geschichte, der die deutsche Welt ins Wanken brachte, der das Gute an Deutschland hervorgebracht hat und seine Abgründe. Vor 34 Jahren stürmten Ostberliner die Grenzübergänge, ohne dass ein Schuss fiel, vor 85 Jahren verübten Deutsche ein Pogrom, mit dem die Vertreibung und Ermordung des jüdischen Volkes begann. Noch nie habe ich mich beiden Ereignissen so nahe gefühlt wie in diesem Jahr, kam mir die Langeweile des gewöhnlichen Kapitalismus in Berlin-Lichterfelde so beruhigend vor – und so trügerisch. Ich habe das Gefühl, die Leute wachrütteln zu müssen, und auch mich selbst, mich an die Lehren des 9. November zu erinnern: Lieber streiten und quatschen als schweigen. Und keine Angst vor der Zukunft haben.

QOSHE - 34 Jahre nach dem Mauerfall: Die Ostdeutschen haben das Streiten verlernt - Anja Reich
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34 Jahre nach dem Mauerfall: Die Ostdeutschen haben das Streiten verlernt

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09.11.2023

Ich bin gerne im Berliner Westen in diesen Tagen, im tiefen Westen. Am Botanischen Garten zum Beispiel, wo man sich im Café zwischen dem „Frühstück Lichterfelde“ (Croissant, Café Crema, Konfitüre) und dem „Frühstück Wannsee“ (Quark, frisches Obst, Tee, Orangensaft) entscheiden muss. Wo am Zeitungs- und Lottoladen das Schild „Pause bis 14 Uhr“ hängt, wo die alten Zeitungsaufsteller mit der alten Werbung stehen: „Heute schon B.Z. gelesen?“ und ein Plakat für die Räuber-Hotzenplotz-Vorstellung in der Kirchengemeinde wirbt.

Das Leben scheint langsamer dort, die Leute scheinen mehr Zeit, bessere Laune und die unumstößliche Gewissheit zu haben, dass alles immer so weitergeht: Frühstück Wannsee, Räuber Hotzenplotz, Pause bis 14 Uhr. Ich genieße das. Wie man etwas genießt, das es nicht mehr lange geben könnte. Meine Ausflüge in den Westen kommen mir vor wie ein Abschied von einer Welt, in der ich nie so richtig angekommen bin.

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